Hatikwa

Vom Mut, weiter zu hoffen

Nach der Ermordung von Hersh Goldberg-Polin durch die Hamas zünden Demonstranten Kerzen. Sieben Tage nach seinem Begräbnis hält seine Mutter trotz allem eine Rede voller Hoffnung. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

In diesen Tagen wünsche ich meinen Mitmenschen Schana Towa – doch wenn ich zugleich auf das vergangene Jahr zurückblicke, fällt es schwer, von einem guten Jahr zu sprechen. Wir haben ein Jahr erlebt, das uns alle zutiefst erschüttert hat. Die Tragödie vom 7. Oktober lässt sich kaum in Worte fassen. Zurück bleiben Schmerz, Trauer, Angst, Unsicherheit und Wut – Gefühle, die wie ein schwerer Schatten über uns liegen.

Unsere neue Realität ist geprägt von diesem grausamen Massaker, dem fortdauernden Krieg und dem bedrohlich wachsenden Antisemitismus. Wenn wir auf das vergangene Jahr zurückschauen, sind es vor allem die unzähligen traumatischen Bilder und Geschichten, die uns begleiten. Bilder und Geschichten, die wir am liebsten wie beim Taschlich in die Tiefen des Meeres werfen und vergessen würden – und doch wissen wir, wie wichtig es ist, dass sie niemals in Vergessenheit geraten.

Eine Zäsur – für uns als Volk, für unsere Gemeinden und für die gesamte Welt

Der 7. Oktober markierte in vielerlei Hinsicht eine Zäsur – für uns als Volk, für unsere Gemeinden und für die gesamte Welt. Doch auch für viele von uns ganz persönlich war dieser Tag ein tiefgreifender Einschnitt. An den vergangenen Hohen Feiertagen stand der Chasan meiner Züricher Gemeinde noch vor mir, nicht ahnend, was kommen würde.

Doch nur zwei Wochen später wurde er, wie so viele Israelis, ins Militär eingezogen und verbrachte 124 Tage an der Front, um und in Gaza, während seine Frau mit den vier Kindern besorgt zu Hause zurückblieb. Als ich mit ihm sprach, wie herausfordernd dies gewesen sein muss, sagte er demütig: Im Vergleich zu anderen gehe es ihm ja noch relativ gut – im Vergleich zu jenen, die verletzt oder deren Angehörige getötet oder entführt wurden.

Und dann teilte er einen Gedanken mit mir. Er sagte, während wir letztes Jahr an Rosch Haschana das Gebet Unetane Tokef sprachen, habe er, hätten wir alle niemals ahnen können, wie erschreckend aktuell und relevant fast jeder Satz in diesem Gebet bald werden würde:

»Mi jichje umi jamut?« heißt es dort: »Wer wird leben, und wer wird sterben, wer zu seiner Zeit und wer durch einen vorzeitigen Tod, …. wer durch Feuer, wer durch Schwert und wer durch wilde Tiere, wer durch Hunger und wer durch Durst (…), wer wird in Frieden leben, und wer wird verfolgt, wer wird glücklich sein, und wer wird gequält, wer wird verarmt und wer wird reich, wer wird entwürdigt und wer erhöht?«

Diese Worte führen uns nicht nur vor Augen, wie unberechenbar das Leben ist, sondern auch, wie fragil und kostbar es ist.

Nach dem Trauma des 7. Oktober und während in Europa und Nahost Krieg tobt, während die Gesellschaft sich stark polarisiert und die Anfeindungen gegen Juden und Israel in unvorstellbarer Weise zunehmen, moralische Klarheit verloren geht und als Folge selbst Freundschaften zerstört werden – in solchen Zeiten ist es schwer, Hoffnung und Perspektive zu bewahren. Man fühlt sich gefangen in einem Überlebensmodus. Dieser ist aber alles andere als neu für das jüdische Volk. Seit Jahrtausenden ist unsere Geschichte voller Leiden, Verfolgung und Exil.

Im Judentum glauben wir nicht an ein unabwendbares Schicksal.

Doch trotz der vielen Verluste, die die Juden im Laufe ihrer Geschichte erlitten – Verlust ihres Landes, ihres Zuhauses, zweimal ihres heiligen Tempels in Jerusalem –, und ja, leider auch der Verlust vieler Leben – trotz allem, haben die Juden eines nie verloren: ihre Hoffnung!

Eine Vision der Zukunft

Doch wie Rabbi Jonathan Sacks es treffend formulierte: »Die Juden hielten die Hoffnung lebendig, und die Hoffnung hielt das jüdische Volk am Leben.« Hoffnung ist der Funke, der das Leben entzündet und aus dem Überlebensmodus eine Vision der Zukunft formt.

Im Judentum glauben wir nicht an ein unabwendbares Schicksal, dem man wie in griechischen Tragödien nicht entkommen kann, sondern an die transformative Kraft der Hoffnung. Diese revolutionäre Idee ist tief in unseren heiligen Schriften und Gebeten verankert.

Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Vision des Propheten Jecheskel. Auf die Aussage der sich im babylonischen Exil befindenden Juden »avdah tikvatenu«, »unsere Hoffnung ist verloren«, soll Jecheskel im Namen Gʼttes antworten: »Ich führe euch empor aus euren Gräbern als mein Volk und ich werde euch zurückbringen in das Land Israel.«

Auf genau diese prophetische Vision bezog sich Naftali Herz Imber, als er 1877 die Worte für das Lied schrieb, das später zur israelischen Nationalhymne Hatikwa, »die Hoffnung«, wurde: »Od lo avdah tikvatenu« – »Unsere Hoffnung ist noch nicht verloren«.

Selbst in den dunkelsten Stunden der Schoa, 70 Jahre nach Verfassen der Hatikwa, wurde dieser Text als ein Ausdruck unzerstörbarer Zuversicht gesungen. Und tatsächlich – drei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, nach Jahrtausenden des Wartens, des Leidens, aber auch des sehnsüchtigen Betens und Hoffens, »Leschana Haba Biruschalajim« – »Nächstes Jahr in Jerusalem«, haben wir, das jüdische Volk, endlich unsere Heimat wiedererlangt, ging die lang ersehnte prophetische Vision in Erfüllung: »Und ich werde euch zurückbringen in das Land Israel.«

Damit bildet Israel – trotz aller internen und externen Herausforderungen – ein lebendiges Zeugnis für die unerschütterliche Kraft der Hoffnung! Und darum heißt die Hymne Israels Hatikwa. Bei aller Kritik, die man an Israel haben kann: Wer den Zionismus, wer Israel ablehnt, leugnet nicht nur unser Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch ebenjene tief verwurzelte Hoffnung unseres Volkes.

Auch wenn Stimmen laut werden, die behaupten, unsere Hoffnung sei verloren, entgegnen wir mit den Worten: »Od lo avdah tikvatenu« – »Unsere Hoffnung ist noch nicht verloren, die Hoffnung stirbt zuletzt.«

Rosch Haschana ist Ausdruck der Hoffnung

Rosch Haschana ist ein Ausdruck dieser Hoffnung. Wir wünschen ein gutes neues Jahr. Wie es im sefardischen Gebet »Achot Ketana« aus dem Mittelalter heißt und wie es sich dieses Jahr sicher viele in Israel ersehnen: »Möge das Jahr mit seinen Flüchen enden! Möge das neue Jahr mit seinen Segnungen beginnen!«

Dabei ist es wichtig zu verstehen: Hoffnung ist mehr als nur blinder Optimismus. Ich zitiere erneut Rabbi Sacks: »Während Optimismus der Glaube ist, dass die Welt sich zum Besseren wendet, ist Hoffnung der Glaube, dass wir gemeinsam die Welt besser machen können.« Optimismus ist eine passive Haltung, Hoffnung hingegen eine aktive. Es braucht keinen Mut, optimistisch zu sein, aber es erfordert großen Mut zu hoffen!

Auf ein gutes neues Jahr zu hoffen, bedeutet also kein bloßes Abwarten, sondern uns aktiv an der Gestaltung einer besseren Zukunft zu beteiligen. Rosch Haschana, seine Gebete und das Hören des Schofars sind ein Aufruf zum Handeln.

Ich komme zurück zum Gebet Unetane Tokef, das kraftvoll ausdrückt, dass wir nicht wissen, was das neue Jahr für uns bereithält. Doch trotz der vielen Unbekannten haben wir einen entscheidenden Faktor in der Hand: unseren Willen und unser eigenes Handeln.

Die Tora lehrt, dass wir die Freiheit haben, zu wählen, wie wir auf Herausforderungen reagieren. Während wir nicht die Macht haben, das Schicksal vollständig zu kontrollieren, können wir, wie es im Gebet heißt, durch »Teschuwa, Tefila, Zedaka« – also durch Umkehr, Gebet und Wohltätigkeit – seine Härte mildern. Diese drei Werkzeuge helfen uns, aktiv an einer besseren Zukunft mitzuwirken und auch in schwierigen Zeiten Hoffnung zu bewahren.

Kürzlich erklärte meine Tochter so treffend, warum wir an Rosch Haschana einen Apfel in Honig tunken: weil der Apfel das Leben symbolisiert – manchmal süß, manchmal sauer. Doch wenn wir ihn in Honig tauchen, wird er sicher süßer. Es ist nicht immer leicht, den Honig zu finden, und oft ist es eine Herausforderung, ihn zu erreichen, ohne gestochen zu werden – aber er ist da!

Wir glauben an die transformative Kraft der Hoffnung.

Wenn wir auf das vergangene Jahr zurückblicken und in die Zukunft schauen, dürfen wir nicht vergessen, dass es trotz all des unermesslichen Leids immer noch Grund zur Hoffnung gibt. Diese Hoffnung schöpfen wir aus unseren Schriften, aus unserer Geschichte, aber auch aus den Menschen, die heute unter uns wirken. Denken wir daran, wie gespalten die israelische Gesellschaft noch am 6. Oktober war. Es schien, als stünde Israel am Rande eines Bürgerkriegs. Doch in der Stunde der Wahrheit wurde sie aufgerüttelt und erkannte, dass es um ihre Existenz geht.

Plötzlich erinnerten sich Juden auf der ganzen Welt daran, warum sie nach 2000 Jahren Hoffnung die Kraft und Entschlossenheit fanden, eine wunderschöne, erfolgreiche und geliebte Heimat zu gründen. Wie in einer Familie, in der manchmal heftig gestritten wird, rückten wir in Zeiten der Not enger zusammen, getragen von Solidarität, Einheit und Empathie. Weil unsere Liebe stärker ist als der Hass unserer Feinde.

Wir können die Versäumnisse seitens der Regierung und der Behörden nicht unter den Teppich kehren. Und Fehler passieren immer noch. Doch das zuvor gespaltene Volk zeigte eine beispiellose Einheit und Solidarität. Soldaten, Sicherheitskräfte und einfache Bürger vollbrachten unglaubliche Heldentaten. Junge Menschen übernahmen über Nacht Verantwortung, halfen Vertriebenen, kümmerten sich um traumatisierte Kinder und besuchten Verletzte.

Wir sind nicht allein!

Auch außerhalb Israels wurde Solidarität gezeigt. Trotz der Anfeindungen und Angriffe gegen uns dürfen wir nicht vergessen, dass wir in der nichtjüdischen Welt Freunde und Alliierte haben, die große Anteilnahme gezeigt haben. Politiker und Repräsentanten, aber auch ganz »normale« Bürgerinnen und Bürger. So werde ich nie vergessen, wie mein christlicher Nachbar spontan zu uns kam, um seine Betroffenheit und Solidarität auszudrücken. Diese Gesten zeigen uns: Wir sind nicht allein!

Die Mutter von Hersh Goldberg-Polin, einem jungen Israeli, der nach 330 Tagen Geiselhaft von der Hamas brutal ermordet wurde, richtete sich nach der Schiwa an ihre Gemeinde. Sie zeigte sich weder zynisch noch verbittert. Stattdessen verkörpert sie den jüdischen Geist, der die Hoffnung niemals aufgibt, und ohne es explizit zu sagen, griff sie in ihrer Rede die Formel von Teschuwa, Tefila und Zedaka, also Umkehr, Gebet und Wohltätigkeit, auf.

Sie drückte die tiefe Dankbarkeit gegenüber den vielen wohltätigen Taten, die ihr und ihrer Familie zuteilwurden, aus (Wohltätigkeit) und bat die Zuhörer: »Betet weiter, dass wir alle überleben und wieder aufblühen, irgendwie, auf irgendeine Weise (…) eines Tages; denn wir werden es schaffen« (Gebet). »Und möge Hershs Licht uns immer inspirieren. Möge sein Andenken ein Segen und eine Revolution sein (…) aber keine verrückte Revolution (…) nur eine Revolution, anders zu denken und zu handeln« (Umkehr).

Mögen wir, wie Rachel und so viele andere, die Teschuwa, Tefila und Zedaka aktiv leben und Resilienz und Hoffnung aus unserer Tradition, unserer Vergangenheit und aus den Menschen der Gegenwart schöpfen.

Der Autor ist Gemeinderabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.

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