Psalmen

»Vielleicht weil Du nie hier warst«

»Wie konnte der Allmächtige das zulassen?«, fragt Menachem Rosensaft. Foto: picture alliance/dpa/Revierfoto

Menachem Rosensaft wurde 1948 in Bergen-Belsen geboren. Die Baracken des Konzentrationslagers hatten britische Soldaten niedergebrannt, befreite Juden wurden in ehemaligen Wehrmachtskasernen untergebracht, unweit des Ortes, an dem die Nazis sie vernichten wollten. Rosensafts Eltern hatten beide dieses KZ überlebt, sein Bruder wurde in Birkenau vergast.

80 Jahre später hat ihr Sohn einen Gedichtband publiziert, in dem er das Familienerbe, den generationsübergreifenden Schmerz, das kollektive Trauma, mit Gott verhandelt. Es ist eine Replik auf jeden einzelnen Psalm des Tanachs, 150 Gedichte. Wenn König David Gott lobt, klagt Menachem Rosensaft ihn an. In »Burning Psalms« offenbart sich ein Überlebender, der mit Verzweiflung versucht, den Allmächtigen, den Ewigen, den Allgegenwärtigen mit seiner scheinbar völligen Abwesenheit zu konfrontieren – und ihn wieder zu fassen.

Zu diesem Tischa beAw veröffentlichen wir eines dieser Gedichte auf Deutsch

Tischa beAw ist ein Tag des kollektiven Verlustes. Es ist der Tag der Zerstörung beider Tempel, steht aber symbolisch für viele Tragödien, die über das jüdische Volk gekommen sind.

Bereits 1959 verfasste der ehemalige Frankfurter Rabbiner Simon Schwab ein eigenes Klagelied zur Schoa, das heute in Synagogen weltweit an diesem Tag gesprochen wird. In Erinnerung an ihre dunkelsten Stunden verzichten Juden auf Essen und Trinken, auf feine Schuhe und bequeme Stühle – aber nicht auf ihren Glauben. Sie wenden sich nicht ab von Gott, sondern ihm zu – wenn auch schluchzend, klagend, schreiend.

Zu diesem Tischa beAw, der am Samstagabend beginnt, veröffentlichen wir den sechsten von Menachem Rosensafts Psalmen, in einer ersten deutschen Fassung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zunächst lesen Sie das Original aus dem Tanach, dann Rosensafts Replik.

Psalm 6 aus dem Tanach

Herr,
nicht in deinem Zorne
strafe mich,
und nicht in deinem Grimme
züchtige mich.

Sei mir gnädig, Herr,
denn ich bin verschmachtet,
heile mich, Herr,
denn meine Gebeine beben.

Meine Seele ist sehr bestürzt;
wie lange noch, o Herr?
Kehre wieder, Herr,
befreie mich,
hilf mir um deiner Gnade willen.

Denn im Tode
gedenkt man dein nicht,
wer preist dich
in der Unterwelt?

Ich bin matt geworden
in meinem Seufzen,
in jeder Nacht
schwimme ich in meinem Bett,
mit meinen Tränen
netze ich mein Lager.

Vor Gram ist mein Auge umdüstert,
es altert ob meinen Bedrängern.

Weichet von mir,
ihr Übeltäter,
denn der Herr
hat die Stimme meines Weinens erhört.

Der Herr hat mein Flehen erhört;
der Herr nimmt mein Gebet an.

Zu Schanden werden und sehr bestürzt
all meine Feinde,
sie weichen zurück,
sind zu Schanden im Augenblicke.

Psalm 6 von Menachem Rosensaft

Adonai
meine Augen
sehen nicht mehr
starren ins Leere
mein Herz
fühlt nicht mehr
es ist längst
in Gleichgültigkeit verwest

meine Knochen
fürchten sich nicht mehr
vor Deinem Zorn
seitdem die Feuer der Krematorien
sie verzehrten
seitdem mein Fleisch
aufstieg zu Deinem Himmel
als schwarzer fauliger Rauch

meine Seele
wurde taub
kennt nicht mehr
fühlt nicht
Deine Gegenwart
vielleicht weil
Du nicht hier bist
Du nie hier warst

aber was ist mit Deiner Seele
Adonai
warum sollte ich versuchen sie zu retten
Dich zu retten
um einer Güte willen
einer Wärme
die Du verwehrt hast
nachdem Du
Dich von mir abgewandt hast
hörte ich auf mich zu scheren
auf zu suchen
auf zu warten

Ich kann nicht
werde nicht
nach Dir greifen
ich kann nicht
werde nicht
Dich hören
ich kann nicht
werde nicht
Dich heilen

oh aber im Tod gibt es Erinnerung
Erinnerung ist Tod
und da ist kein Raum für
Dich
oder Deine Gebete
in der Ewigkeit
der Unbegrabenen

all meine Feinde
schämen sich nicht
fürchten sich nicht
bereuen nicht
sind nicht zurückgekehrt
werden nicht zurückkehren

sind niemals gegangen


Menachem Rosensaft: »Burning Psalms:
Confronting Adonai after Auschwitz«, Ben Yehuda Press, New Jersey 2025, 245 S., 19,95 $

Tanachübersetzung: Simon Bernfeld, 1902
Erklärtext und Übersetzung: Mascha Malburg

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