Inklusion

Vielfalt in der Schöpfung

Barrierefreier Zugang: Nicht nur die Kotel gehört allen Jüdinnen und Juden, sondern das gesamte jüdische Erbe. Foto: Getty Images

Baruch meshaneh ha-briyot» – Gesegnet sei der Eine, der Vielfalt in der Schöpfung schafft. Die Halacha weist uns an, diesen Segen zu sprechen, wenn wir einem Menschen begegnen, der «ungewöhnliche» angeborene Körpermerkmale besitzt: Menschen mit Albinismus zum Beispiel, besonders kleinen Menschen oder jemandem, der nicht aufrecht gehen kann. Doch so gut gemeint der Segensspruch sein mag, im Alltag scheint er völlig deplatziert.

Wie so häufig stoßen wir hier auf eine Diskrepanz zwischen religionsrechtlicher Verpflichtung und ethischer Verantwortung aus moderner Perspektive. Doch statt die alten Texte abgeschreckt aus der Hand zu legen, lohnt es sich – wie so oft, gerade wenn es unangenehm wird –, genauer in unsere jüdische Tradition zu schauen: Wie definiert die Tora Gemeinschaft? Wer darf an Ritualen teilnehmen? Welche Annahmen über Normalität liegen dem rabbinischen Diskurs zugrunde? Und wie können wir die Halacha lesen, hinterfragen und vielleicht sogar umgestalten, um ein inklusiveres Judentum zu leben?

Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen

Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen waren schon immer Teil des jüdischen Lebens – sie werden bereits in der Bibel erwähnt und als wertvoller Teil unseres Volkes gekennzeichnet. So mahnt uns Gott im 3. Buch Mose 19,14: «Du sollst einen Tauben nicht verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg legen.»

Auch wenn dieses Gebot leider bezeugt, dass die Diskriminierung von Menschen mit Einschränkungen schon immer ein Problem war, ist hervorzuheben, dass die Bibel diese beschämende Praxis strengstens verbietet.

Doch nicht alle Teile unserer schriftlichen Tradition sind so leicht verdaulich. In der Tora erscheint Behinderung oft im rituellen, rechtlichen oder erzählerischen Kontext. Besonders bedeutend für die halachische Diskussion sind Passagen in Wajikra, in denen bestimmte körperliche Unterschiede Menschen vom priesterlichen Dienst ausschließen: «Sprich zu Aharon und sage: Kein Mann aus deinen Nachkommen, der einen Makel hat, soll herzutreten, um das Brot seines Gottes darzubringen …» (3. Buch Mose 21,17).

Nur wer körperlich «vollkommen» war, sollte den Priesterdienst ausführen.

Zu den physischen Merkmalen, die Menschen vom Priesterdienst ausschließen, zählen Blindheit, körperliche Behinderungen und andere Beeinträchtigungen. Diese Ausschlüsse – ritueller, nicht moralischer Natur – spiegeln eine Theologie wider, in der körperliche «Vollkommenheit» mit ritueller Eignung gleichgesetzt wird. Diese Einstellung – die physische Schönheit mit moralischer Güte verknüpft – findet sich in der gesamten antiken Literatur und hat westliche Ästhetik und Ethik tief geprägt.

Der Talmud entwickelt diese Unterscheidungen weiter, insbesondere in der Klassifikation von Personen wie dem «Cheresch» (Taubstummen) oder «Schoteh» (eine Person mit kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung). Diese Personen gelten oft als ohne «daʼat» (Rechtsverstand) und sind daher von bestimmten Geboten befreit – ebenso wie von der Möglichkeit, als Zeuge vor Gericht zu dienen.

Gesellschaftliche Marginalisierung behinderter Menschen

Auch wenn diese Ausnahmen ursprünglich dem Schutz derer dienten, die als nicht rechtlich verantwortlich galten, führten sie dennoch zu einer anhaltenden Ausgrenzung aus religiösen, rechtlichen und gemeinschaftlichen Rollen – und verstärkten die gesellschaftliche Marginalisierung behinderter Menschen.

Wir sehen hier, wie halachische Kategorien daran scheitern können, die gelebte Erfahrung von Jüdinnen und Juden angemessen widerzuspiegeln – so wie die Realität von Menschen mit Behinderungen. Aber diese Kategorien sind nicht in Stein gemeißelt, wie die Geschichte zeigen sollte.

Der Fall des «Cheresch», also des taubstummen Menschen, ist besonders aufschlussreich. Vor der Entwicklung der Gebärdensprache hatten viele taube Menschen – vor allem solche, die taub geboren wurden – keine systematische Möglichkeit, Sprache zu erlernen. Daraus entstand die fälschliche Annahme, dass sie auch keine komplexen Gedanken äußern könnten.

Der Talmud selbst legt jedoch gegenteiliges Zeugnis ab. In Menachot 64b wird ein taubstummer Mann beschrieben, der durch das Zeigen auf bestimmte Objekte den Rabbinern mitteilt, woher das Getreide stammt – womit es für das Omer-Opfer geeignet war.

Ein noch eindrücklicheres Beispiel findet sich in Chagiga 3a: «Die Gemara fragt: Bedeutet das, dass jemand, der nicht sprechen kann, auch nicht lernen kann? Aber betrachte folgenden Vorfall: Es gab zwei stumme Menschen im Umfeld von Rabbi Jehuda HaNasi. Sie waren die Söhne der Tochter von Rabbi Jochanan ben Gudgeda – oder laut anderen: der Schwester. Sie kamen immer mit in das Lehrhaus, bewegten ihre Lippen und nickten mit dem Kopf, als würden sie verstehen. Rabbi Jehuda HaNasi betete für sie – und sie wurden geheilt. Es stellte sich heraus, dass sie gelehrt waren in Mischna, Sifra, Sifrei und dem gesamten Talmud.»

Intelligenz und Ressourcen

Die Rabbiner erkannten also durchaus die Intelligenz und Ressourcen taubstummer Menschen. Dennoch führte die Konfrontation mit diesem lebendigen Gegenbeweis nicht sofort zu einer systemischen Neubewertung – bis sie schließlich kam.

Einige halachische Autoritäten vertreten heute die Ansicht, dass Menschen, die früher als ausgenommen von einigen Mizwot galten, durch Bildung und Technologie nun einem anderen Status entsprechen und voll verpflichtet sein können.

Ein anderes Beispiel für die Verschiebung der Halacha im Laufe der Zeit ist die Frage, ob eine blinde Person zur Tora gerufen werden darf. Der Schulchan Aruch sagt: «Eine blinde Person darf nicht aus der Tora lesen, denn es ist verboten, auch nur einen Buchstaben nicht direkt aus dem geschriebenen Text zu lesen.» Damals las die Person, die zur Tora gerufen wurde, selbst aus der Torarolle. Sehvermögen war also essenziell.

Zur Alija aufrufen

Im Mittelalter begann sich jedoch die Praxis zu ändern: Ein fest angestellter «Ba’al Koreh», ein Toraleser, übernahm das Vorlesen, während die gerufene Person nur die Segenssprüche sprach. Das bedeutete nicht automatisch, dass Blinde zur «Alija» gerufen werden durften – da sie es ja «theoretisch» selbst nicht hätten lesen können – aber es eröffnete den Weg für eine Neubewertung. Rabbi Mosche Isserles (Rema) schrieb im 16. Jahrhundert in seinem «Darkei Moshe», dass es Brauch sei, auch blinde Menschen zur Alija zu rufen. Im 17. Jahrhundert stimmte auch der «Bach», Rabbi Joel Sirkis, dem zu.

Heute erkennen viele Gemeinden an, dass blinde Menschen voll berechtigt sind, zur Alija aufgerufen zu werden. Eine Verweigerung könnte sogar als Verstoß gegen «Kavod HaBriyot», die Würde des Menschen, gelten – ein Prinzip, das gewisse rabbinische Verbote überwiegen kann (Berachot 19b).

«Du sollst einem Blinden kein Hindernis in den Weg legen.»

3. Buch Mose 19,14

Diese halachische Entwicklung – von der Ausgrenzung zur Inklusion – zeigt: Die Tora gehört nicht nur den Sehenden. Sie ist das Erbe aller Jüdinnen und Juden, unabhängig davon, wie sie Zugang zu ihren Worten finden.

Jüdinnen und Juden mit Einschränkungen werden zunehmend selbst zu Auslegenden und Lehrenden der Tora. Ihre Perspektiven durchbrechen die traditionelle Dynamik, in der behinderte Menschen primär Gegenstand halachischer Urteile waren – nun werden sie zu aktiven Mitgestaltenden.

Dieser Text reicht nicht aus, um alle Menschen und Organisationen zu benennen, die heute aus einer selbstbewussten Position heraus für sich als Jüdinnen und Juden mit Einschränkungen sprechen. So gibt es beispielsweise das «Yad HaChazakah», ein Pionierprojekt mit Sitz in New York, ein Zentrum, das sich dafür einsetzt, Juden mit Behinderungen zu einem aktiven, selbstbestimmten Leben in ihren Gemeinden zu befähigen.

Symbol göttlich-menschlicher Zusammenarbeit

Zu nennen wären auch einzelne Figuren wie Rabbi Julia Watts Belser, die auf rabbinische Texte, Theorien zu Queerness und Behindertengerechtigkeit zurückgreift, um radikal inklusive Lesarten der Tora anzubieten. In ihrer Arbeit interpretiert sie biblische Figuren wie Mosche neu – dessen Sprachbehinderung (2. Buch Mose 4,10) zu einem Symbol göttlich-menschlicher Zusammenarbeit statt eines Defizits wird.

Auch die sozialen Medien helfen Jüdinnen und Juden mit Einschränkungen, für sich einzustehen. So erklärt Matti, ein Rabbiner mit Autismus, seine Perspektive auf Instagram.

Rabbi Lauren Tuchman, die erste blinde Frau, die in den USA zur Rabbinerin ordiniert wurde, lehrt, dass barrierefreier Zugang keine nachträgliche menschliche Korrektur, sondern ein spiritueller Imperativ ist, der bereits in der Theologie von «bʼtzelem Elohim» (also der Idee, dass wir in Gottes Ebenbild erschaffen wurden) steckt. Sie regt uns dazu an, nicht in Einschränkungen, Hindernissen, Ausgrenzungen zu denken – sondern all diese Bedingungen schlicht als andere Wege zur Spiritualität zu begreifen: «Blindheit begrenzt die Tora nicht – sie erweitert sie. Sie ruft uns auf, Heiligkeit jenseits des Sichtbaren zu finden.»

Die Autorin ist Talmudlehrerin bei dem europaweiten jüdischen Lernprogramm Ze Kollel. Sie hat an der Hebräischen Universität Jerusalem, der Yeshivat Hadar sowie den Instituten Paideia und Pardes studiert.

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