Mit Paraschat Dewarim beginnt das fünfte Buch der Tora, das ebenfalls den Namen Dewarim trägt. Der Name bedeutet »Worte« – und das ist wörtlich zu nehmen: Mosche beginnt eine lange Abschiedsrede. Es sind seine letzten Worte an das Volk Israel vor dessen Einzug ins verheißene Land. Am Ende der 40-jährigen Wüstenwanderung blickt er zurück auf die Geschichte des Volkes seit dem Auszug aus Ägypten.
Mosche spricht nicht mehr als Anführer, sondern wie ein Vater, der seine Kinder auf das Leben vorbereitet. Er erinnert sie an wichtige Stationen ihrer Geschichte: an den Auszug aus Ägypten, an den Empfang der Tora am Sinai, an die Fehler wie die Geschichte der Kundschafter, aber auch an ihre Siege über feindliche Könige wie Sichon und Og. Mosche hält dem Volk den Spiegel vor – aber nicht, um es zu beschämen, sondern damit es aus der Vergangenheit lernt.
Doch diese Rückschau ist kein resignierter Blick zurück, sondern eine pädagogische Mahnung: Wer ins verheißene Land einziehen will, darf seine Geschichte nicht vergessen.
Mosche nennt geografische Stationen der Wanderung, die auf den ersten Blick sehr nüchtern erscheinen – »zwischen Paran, Tofel, Laban, Chatzerot und Di-Sahaw«. Die Kommentatoren fragen: Warum nennt er gerade diese Orte? Der Midrasch sagt: Mosche spricht in verschlüsselter Weise über die Sünden des Volkes – den Götzendienst mit dem Goldenen Kalb, das Murren in der Wüste. Und doch tadelt er nicht direkt, sondern mit Feingefühl und Würde. Vielleicht ist dies eine Lektion in jüdischer Kommunikation: Ermahnung ja, aber niemals Demütigung.
Ohne Erinnerung verlieren wir unsere Identität
Man sagt, die Erinnerung sei das Gedächtnis des Volkes. Ohne sie verlieren wir unsere Identität. Nach 1945 war dies mehr als ein Spruch – es war Überlebensnotwendigkeit. Auch heute, im Zeitalter von Fake News und historischer Relativierung, bleibt die jüdische Erinnerungskultur ein Akt der Selbstbehauptung.
Mosche, der große Anführer, zieht sich zurück – nicht in Verbitterung, sondern im Vertrauen. Er weiß: Ein Volk, das gelernt hat, sich an das Richtige zu erinnern, wird auch in Zukunft bestehen.
So hören wir am Schabbat Dewarim nicht nur eine Rede, sondern den Beginn eines Vermächtnisses. Und wir lernen: Erinnerung ist nicht Nostalgie – sie ist Verpflichtung.
Der Schabbat Dewarim fällt fast immer auf den Schabbat vor Tischa beAw, dem Trauertag zur Erinnerung an die Zerstörung beider Tempel in Jerusalem. Dieser Schabbat trägt einen besonderen Namen: »Schabbat Chason«, Schabbat der Vision. Er ist benannt nach dem ersten Wort der Haftara-Lesung »Chason« (Vision) aus dem Buch des Propheten Jeschajahu: Chason Jeschajahu ben Amotz – die Vision Jeschajahus, des Sohnes von Amotz.
Jeschajahu sieht – oder vielmehr: lässt uns sehen, was aus einer Gesellschaft werden kann, wenn sie sich von Gerechtigkeit, von Mitgefühl und von der Tora entfernt. Jeschajahus Vision ist eine der schärfsten Anklagen der jüdischen Prophetie: »›Was soll mir die Menge eurer Schlachtopfer?‹, spricht der Ewige. ›Ich habe genug der Brandopfer von Widdern (…). Hört auf, vor Mir zu erscheinen – eure Feste hasse Ich mit ganzer Seele‹« (1, 11–14).
Wie kann der Ewige, der die Opfer doch selbst geboten hat, sie so verwerfen?
Diese Worte erschüttern. Wie kann der Ewige, der die Opfer doch selbst geboten hat, sie so verwerfen? Die Antwort liegt in der Haltung des Herzens. Der Prophet ruft: »Wascht euch, reinigt euch, entfernt das Böse aus euren Taten – lernt, Gutes zu tun, trachtet nach Recht!« (1, 16–17).
Dieser Aufruf ist ein Echo der Mussar-Bewegung, lange bevor es sie gab: die Forderung nach innerer Läuterung, nach ethischer Korrektur – nicht als Ersatz, sondern als Voraussetzung für religiöse Praxis.
Schabbat Chason steht unmittelbar vor Tischa beAw, dem neunten Tag des Monats Aw. Es ist der Trauertag, an dem beide Tempel zerstört wurden – 586 v.d.Z. durch Nebukadnezar und 70 n.d.Z. durch Titus.
In der Liturgie von Tischa beAw lesen wir »Echa«, die Klagelieder. Doch der Niedergang begann lange zuvor – nicht mit den Feinden von außen, sondern durch die inneren Risse. Der Talmud lehrt: »Warum wurde der Zweite Tempel zerstört? Wegen grundloser Feindschaft«, auf Hebräisch: »Sin’at chinam« (Joma 9b).
Das ist die eigentliche Vision Jeschajahus: nicht nur Trümmer aus Stein, sondern Trümmer im sozialen Gefüge. Die prophetische Mahnung lautet: Eine Gesellschaft, die Äußerlichkeit über Ethos stellt, gefährdet ihren Zusammenhalt.
Am Schabbat Chason wird jedem Juden in der Seele eine Vision des Dritten Tempels gezeigt
Der Chassidismus gibt diesem Schabbat einen zusätzlichen mystischen Sinn. Der große Zaddik Rabbi Levi Jizchak von Berditschew (1740–1809) sagt: Am Schabbat Chason wird jedem Juden in der Seele eine Vision des Dritten Tempels gezeigt – ein Bild des Tempels, wie er in der Zukunft wiedererstehen könnte, wenn wir bereit sind.
Diese Idee geht zurück auf den Midrasch Tanchuma (Nasso 16), wo es heißt: »G’tt hat den zukünftigen Tempel schon im Himmel erbaut – doch er wird erst offenbar werden, wenn Israel würdig ist.«
Das ist kein naiver Messianismus. Es ist eine spirituelle Forderung: Der Tempel, Beit HaMikdasch, ist nicht nur ein Gebäude, sondern ein Symbol für das Gleichgewicht von Awoda – G’ttesdienst –, Tora – Lehre – und Gemilut Chassadim – gütigem Handeln.
Ein weiteres liturgisches Echo findet sich am Ende von Jom Kippur – im Ne’ila-Gebet: »Schma Kolejnu – höre unsere Stimme, erbarme dich unser.«
Das ist dieselbe Stimme, die Jeschajahu anspricht – die innere Stimme des Volkes, die oft übertönt wird vom Lärm der Rituale ohne Herz. Schabbat Chason will uns daran erinnern, dass Tefilla, das Gebet, Tora und Teschuwa, die Umkehr, untrennbar miteinander verwoben sind.
Wir leben in einer Zeit, in der Visionen oft fehlen – oder ersetzt werden durch Zynismus, durch Spaltung, durch das Nachäffen von Scheinwahrheiten.
Schabbat Chason ruft uns zurück zur wahren Vision: eine Gesellschaft, die Recht übt – nicht nur in Worten, sondern in Strukturen. Eine Religiosität, die nicht an Äußerlichkeiten klebt, sondern das Herz formt. Ein Judentum, das nicht nur um den zerstörten Tempel trauert, sondern sich selbst als Baumeister begreift. Denn die Zukunft beginnt mit einem Bild, das wir sehen, wie Jeschajahu es sah – und dann bauen wir es, Stein für Stein: in unserem Leben, in unseren Gemeinden, in der Welt.
Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.
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Im Wochenabschnitt Dewarim blickt Mosche vor der Überquerung des Jordans auf die Wanderung durch die Wüste zurück. Er erinnert an die schlechten Nachrichten der Spione und sagt, dass Jehoschua an seine Stelle treten wird. Dann erinnert Mosche an die 40-jährige Wanderung und die Befreiung der ersten Generation aus Ägypten. Seiner Meinung nach gehört das, was die Eltern erlebt haben, zum Schicksal ihrer Kinder. Wozu sich die Vorfahren am Sinai verpflichtet haben, ist auch für die Nachkommen bindend. Es wird bestimmt, mit welchen Völkern sich die Israeliten auseinandersetzen dürfen und mit welchen nicht. Mosches Bitte, das Land Israel doch noch betreten zu dürfen, lehnt G’tt ab.
5. Buch Mose 1,1 – 3,22