Mizwot

Verbunden sein

Wochentags beim Morgengebet Tefillin zu legen, ist eine wichtige Mizwa. Foto: Rafael Herlich

Das Judentum spricht einerseits von freier Wahl: Der Mensch soll sich selbst für den richtigen Weg entscheiden. Dennoch gibt es insgesamt 613 Gebote und Verbote in der Tora. Wir nennen sie Mizwot; der Singular ist Mizwa. Das Wort wird in der Tora etwa 300-mal erwähnt.

Und obwohl der Mensch selbst entscheiden kann, ob er die Mizwot einhält oder nicht, schildert die Tora für den Fall der Nichtbefolgung eindeutige Konsequenzen: »Siehe, Ich lege euch heute Segen und Fluch vor. Segen – wenn ihr die Tora befolgt, Fluch – wenn ihr die Tora nicht befolgt«, heißt es im 5. Buch Mose 11, 26–27.

anweisungen Das hebräische Wort »Mizwa« bedeutet wörtlich übersetzt »Gebot« oder »Befehl«. Mizwot sind konkrete Anweisungen. Im Judentum geht es zum Beispiel darum, den Schabbat zu halten, Gebetsriemen zu legen und Zedaka (Wohltätigkeit) zu üben – nicht um eine abstrakte Botschaft, ein guter Mensch zu sein. Doch Befehle sind etwas, was wir im Grunde unseres Herzens überhaupt nicht mögen. Wir wollen frei sein in unseren Entscheidungen. Der moderne Mensch versucht, seine Autonomie zu verteidigen. Das geht so weit, dass er auch dann, wenn ihm jemand etwas befiehlt, eine solche Ansage lieber als Empfehlung auffasst, und nicht als Pflicht.

Doch welche Vorteile hat es, die Mizwot zu halten? Bedeuten sie im Alltag eine Lebenseinschränkung oder eine Lebensbereicherung? Man kann darüber lange diskutieren. Um aber zu einer Entscheidung zu kommen, muss man erst einmal verstehen, was eine Mizwa überhaupt ist.

Seit der Schöpfung und Erschaffung des Menschen führt jeder Mensch eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Der Ewige erschuf den Menschen »aus Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase Hauch des Lebens« (1. Buch Mose 2,7). Der Körper strebt nach materieller Befriedigung, die Seele nach Geistigkeit und Spiritualität. Die Gedanken und die Wünsche der Seele kann der Mensch nur schwer erfüllen. Denn die Seele sucht nach Geistigem, der Körper aber nicht.

Körper und Seele Es ist die Mizwa, die eine besondere Verbindung zwischen der Seele und dem Körper schafft. Eine Mizwa ist nichts anderes als das, was uns hilft, unsere Ideen in der Welt mithilfe unserer körperlichen Kraft zu verwirklichen. Der Mensch kann sich also selbst für das Leben entscheiden; nach dem Tod ist die Seele ohnmächtig. Deshalb wünschen wir uns, zu Lebzeiten möglichst viele Mizwot zu erfüllen.

Und das macht jeden Körperteil von uns noch wichtiger, als er ohnehin schon ist. Wir legen Tefillin an den Arm, wir gehen am Schabbat zu Fuß, um eine Mizwa zu erfüllen, und unser Magen nimmt die Mazza auf. Alles hat seinen Sinn. 613 Ge- und Verbote sind eine ganze Menge. Sie betreffen alle Bereiche unseres Lebens. Es gibt unterschiedliche Gruppen von Mizwot. Man unterscheidet sie in »Mizwot Asse« (248) und »Lo Taasse« (365) – Gebote und Verbote.

Es gibt Gebote, die mit den Beziehungen zwischen Menschen zu tun haben, und solche, die die Beziehungen zwischen dem Menschen und G’tt regeln; Mizwot, die mit einer bestimmten Tageszeit verbunden sind (nur für Männer), oder Mizwot, die man immer erfüllen soll (für Männer und Frauen), Mizwot für die Landwirtschaft in Israel, Mizwot für bestimmte Menschengruppen (Frauen, Männer, Kohanim und so weiter) und zuletzt auch Mizwot, die nur im Bet Hamikdasch – im Tempel von Jerusalem – zu erfüllen sind.

Daraus ergibt sich, dass viele von den Mizwot heute nicht erfüllbar sind. Im Moment sind es 270 Mizwot, die wir einhalten können. Im Vordergrund der Mizwot steht die Besserung unseres Verhaltens und damit unseres ganzen Lebens. Natürlich erfüllen wir die Mizwot, weil G’tt es uns gesagt hat. Doch wir suchen oft auch nach einer weiteren Erklärung. Manche Menschen halten Mizwot, weil sie Teil der jüdischen Gemeinschaft sein wollen, und andere, weil es ihnen einfach Freude bereitet, die jüdischen Feiertage zu begehen und die Schabbatkerzen zu zünden.

Rote Kuh Die bekannteste der uns unverständlichen Mizwot ist die »Rote Kuh«, die gebraucht wurde, um einen Menschen rituell rein zu machen für den Tempeldienst. König Salomon, der Weiseste von allen, versuchte, es zu verstehen, und vermochte es nicht. Rabbiner Samson Raphael Hirsch erklärt viele der Mizwot mit dem Versuch, unser moralisches Niveau zu heben.

Die Mizwot sind uns gegeben, um unseren Kontakt mit G’tt zu verstärken. Wir kennen unsere Schwächen und wissen, dass wir sofort in eine andere, sehr gefährliche Richtung geraten, falls wir uns nicht mit etwas Gutem beschäftigen.

Somit sind die Mizwot auf jeden Fall etwas, das unser Leben besser machen kann. Und wenn man sich eingehend mit ihnen beschäftigt und weiß, warum man das eine oder das andere tun soll, sind sie tatsächlich eine Lebensbereicherung.

mitzvah day Der »Mitzvah Day« ist eine tolle Erfindung, aber er sollte auch zum Nachdenken anregen. Erstens sollte man die Mizwot jeden Tag rund um die Uhr das ganze Jahr lang einhalten. Am Mitzvah Day begehen viele Menschen eine gute Tat. Das ist schön, nur ist es nicht alles. Man kann an diesem Tag ganz viele und sehr unterschiedliche Mizwot erfüllen.

Im Endeffekt sollte uns aber auch klar sein, dass nicht nur Quantität zählt. Es ist richtig, dass im Judentum die Tat mehr bedeutet als der Glaube: Es ist wichtiger, wie wir uns verhalten, als was wir prinzipiell beabsichtigen. Doch ein entscheidendes Moment bei der Einhaltung der Mizwot sind sicherlich auch das Herz und der Wille, Gutes zu tun.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

Philosophie

Der Moment des Staunens

Am 13. Juli jährt sich der Geburtstag von Jeanne Hersch zum 115. Mal. Lange wurde die Existentialistin ausgerechnet von der akademischen Forschung marginalisiert – und kaum als jüdische Philosophin wahrgenommen

von Richard Blättel  11.07.2025

Balak

Stärke in Zeiten der Entscheidung

Wie eine uralte Prophezeiung Israels Wesen prägt

von Yonatan Amrani  11.07.2025

17. Tamus

Das ist erst der Anfang

Nun beginnt die jährliche Trauerzeit. Sie soll auf Größeres vorbereiten

von Rabbiner Raphael Evers  11.07.2025

Meinung

Die Kirche schafft sich ab

Jetzt soll ausgerechnet der Antizionismus helfen, den gesellschaftlichen Niedergang der Kirche zu stoppen

von Josias Terschüren  10.07.2025

Nachruf

Er bleibt eine Inspiration für uns alle

Der langjährige Zürcher Gemeinderabbiner Marcel Ebel ist verstorben. Eine Würdigung von seinem Nachfolger

von Rabbiner Noam Hertig  10.07.2025

Talmudisches

Eifersucht: Das bittere Wasser

Unsere Weisen und ein altes Ritual

von Chajm Guski  10.07.2025

Nahost

»Öl ins Feuer des anwachsenden Antisemitismus«

Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt wirft der evangelischen Kirche moralisches Versagen vor und kritisiert eine Erklärung des Weltkirchenrats, in der Israel »dämonisiert« werde

 05.07.2025

Chukat

Ein Tier, das Reinheit schafft

Wir können die Mizwa der Roten Kuh nicht verstehen – aber ihre Bedeutung erahnen

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  04.07.2025

Talmudisches

Die weibliche Idee hinter König David

Was Kabbalisten über Eschet Chajil, die tüchtige Frau, lehren

von Vyacheslav Dobrovych  04.07.2025