Wieso Weshalb Warum

Untaneh Tokef

»Mit ehrlicher Buße kann man G’ttes Entschluss wieder umstimmen, bevor es dann besiegelt wird«: Passage aus dem Untaneh Tokef Foto: Flash 90

In der Synagoge gibt es kein Rosch Haschana und Jom Kippur ohne das wortgewaltige, stilistisch hervorragende »Untaneh Tokef«. Es ist neben dem Kol Nidre das bekannteste poetische Gebet (Pijut) in der rabbinischen Liturgie und wird in den meisten Gemeinden am Anfang des Mussaf-G’ttesdienstes vor dem geöffneten Toraschrank gesprochen.

Rabbi Amnon Der Name entstammt den ersten zwei Wörtern des Einleitungssatzes dieses Gebetes. Es erzählt uns von der Begrenztheit des Menschen sowie der Unsicherheit und Kürze des Lebens. Laut Or Zarua, einem Erklärungsbuch zur Halacha aus dem 13. Jahrhundert (Kap. 276), gilt Rabbi Amnon von Mainz (um das Jahr 1020 n.d.Z.) als Autor von Untaneh Tokef.

Mainz hatte damals einen Erzbischof als Stadtverwalter. Der wollte mehr über das Judentum erfahren, um die christlichen Werke besser zu verstehen, lesen wir im Or Zarua. Deshalb habe er Rabbi Amnon regelmäßig zu sich eingeladen. Im allgemeinen Klima ständiger Judenverfolgung hatte der Rabbi keine andere Wahl, als der Einladung zu folgen, um gute Beziehungen mit dem Bischof zu unterhalten, zum Wohl der jüdischen Gemeinde.

Doch irgendwann fingen der Bischof und seine Mitarbeiter an, ihn zum Übertritt zu drängen. Er ignorierte die Versuche, musste aber trotzdem weiterhin am Hofe erscheinen. Eines Tages ging es jedoch so weit, dass Rav Amnon, um seine Bedränger abzuschütteln, sagte, er benötige drei Tage, um es sich zu überlegen.

Kaum ausgesprochen, bereute er diesen Vorschlag zutiefst. Während der nächsten Tage aß und trank er nichts aus Kummer. Als er am dritten Tag nicht wie abgemacht vor dem Bischof erschien, schickte dieser einige Mitarbeiter zu ihm mit dem Befehl zu kommen. Schließlich ließ der Bischof den Rabbi gegen seinen Willen herbeiführen. Auf die Frage, warum er nicht zum verabredeten Tag erschienen sei, entgegnete Rabbi Amnon, dass er seinen Glauben niemals aufgeben werde und dies auch nie in Erwägung gezogen habe.

Er sei sich bewusst, dass er dem Bischof dadurch falsche Hoffnung gemacht habe, deswegen sei er bereit, eine Strafe vorzuschlagen: das Herausschneiden seiner Zunge, eine typische Bestrafung seiner Zeit. Insgeheim, hoffte Rabbi Amnon, dass er dadurch nie wieder etwas gegen seinen Glauben sagen würde. Gleichzeitig wollte er verhindern, dass die ganze Gemeinde seinetwegen mitbestraft werden würde.

Qualen Der Bischof jedoch sagte: »Nicht die Zunge sollst du verlieren, sondern die Füße, die dich nicht hierher getragen haben. Und du sollst gefoltert werden, indem dir die Finger einer nach dem anderen abgeschnitten werden.« Nach jedem abgetrennten Finger fragte man ihn, ob er jetzt bereit wäre überzutreten. Trotz großer Qualen blieb Rabbi Amnon standhaft. Verstümmelt und mit furchtbaren Schmerzen ließ der Bischof ihn nach Hause bringen.

Es war kurz vor Rosch Haschana. Der Bischof wusste, dass dies für den Gefolterten ein langsamer, qualvoller Tod sein würde. Trotzdem raffte Rabbi Amnon seine letzte Kraft zusammen und bat seine Angehörigen, ihn zur Synagoge zu bringen. Neben dem Vorbeter ließen sie ihn nieder, zusammen mit seinen abgetrennten Gliedmaßen. Jeder kann sich die angespannte Atmosphäre in der Synagoge vorstellen. Als die Gemeinde gerade dabei war, das Keduscha-Gebet anzustimmen, rief Rabbi Amnon dazwischen, dass er gerne G’ttes Namen heiligen möchte.

Mit lauter Stimme rezitierte er das Untaneh Tokef, das aus vier Strophen besteht. Jede Strophe bezieht sich auf wichtige Aspekte von Rosch Haschana und Jom Kippur: »Wie die Engel sollen auch wir vor Furcht beben, wenn das Buch des Gedächtnisses geöffnet wird und das Schicksal für das kommende Jahr eingeschrieben wird. Aber dieses Schicksal muss nicht vorbestimmt sein. Mit ehrlicher Buße kann man G’ttes Entschluss wieder umstimmen, bevor es dann besiegelt wird. Trotz aller Schwierigkeiten huldigen wir G’ttes Namen über alles.« Nach dieser letzter Anstrengung gab Rabbi Amnon seine Seele dem allmächtigen Schöpfer zurück – und uns eine wichtige Botschaft über Generationen hinweg.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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