Freiheit

Um Himmels willen

Warum kein Mensch, keine Partei und kein religiöses Oberhaupt über uns verfügen darf

von Rabbiner Walter Rothschild  29.01.2018 16:06 Uhr

Licht der Freiheit: Der Mensch soll für sich selbst entscheiden, wo er leben möchte, wohin er reist – und in wen er sich verliebt. Foto: Thinkstock

Warum kein Mensch, keine Partei und kein religiöses Oberhaupt über uns verfügen darf

von Rabbiner Walter Rothschild  29.01.2018 16:06 Uhr

Kann man in den Kopf eines Selbstmordattentäters hinein­schauen? Viele dieser gestörten Menschen haben ihre Ge­danken und Gefühle derart abgeschirmt, dass selbst Gott sie nicht mehr erreichen kann – obwohl sie behaupten, in Seinem Namen zu handeln.

In diesem Wochenabschnitt lesen wir zum ersten Mal von den sogenannten Asseret HaDibrot, den Zehn Geboten. Für mich persönlich ist das wichtigste von ihnen, Gottes Namen nicht zu missbrauchen: »Du sollst den Namen des Ewigen, deines Gottes, nicht bei einer Unwahrheit aussprechen. Denn der Ewige wird nicht ungestraft lassen denjenigen, der Seinen Namen bei einer Unwahrheit aussprechen wird« (2. Buch Mose 20,7).

Warum es für mich das wichtigste Gebot ist? Weil es am häufigsten gebrochen wird – von Menschen, die behaupten, sie seien die Guten, die Heiligen.

Buchstaben Viele Fundamentalisten denken, hier sei der göttliche Name als solcher gemeint, die Buchstaben. Aus Angst oder Respekt schreiben sie lieber »G’tt«, »Haschem« oder wählen andere künstliche Bezeichnungen für Gott.

Damit verbunden ist auch die Frage, ob man alte, unbrauchbar gewordene Schriftstücke und Bücher, die den Namen Gottes enthalten, in einer Genisa aufbewahren soll, statt sie zu entsorgen. Das mag als Zeichen des Respekts angemessen sein, doch besteht Gott nicht aus Tinte auf Papier oder Pergament und auch nicht aus Pixeln. Viel wichtiger ist, dass man Gott nicht als Vorwand benutzen darf, um andere zu bedrängen, zu beleidigen, zu demütigen, zu vertreiben oder gar zu töten.

Jene Leute, die andere Menschen im Namen Gottes ermorden – in Kirchen, Moscheen und Synagogen, aber auch in Cafés, Bussen und Flugzeugen, in Schulen und auf Marktplätzen –, lieben Gott nicht, sondern sie hassen den Menschen. Und wenn sie sich selbst dabei töten, dann hassen sie sich selbst. Das müssen wir ihnen klarmachen. Wir akzeptieren ihre falschen, irren Selbstbehauptungen nicht. Wenn sie sagen, sie lieben Gott, so lügen sie! Denn sonst würden sie nicht Menschen, die Gott erschaffen hat, verletzen oder ermorden. Sie wollen darüber entscheiden, was Gottes Wille ist. Sie haben kein Vertrauen in Ihn.

Sie glauben nicht, dass Gott das, was Er für nötig erachtet, selbst tun kann. Sie missbrauchen die Religion und machen es anderen schwer, an Gott zu glauben. Ja, es ist eine schwierige theologische Frage, warum Gott diese Häretiker, diese Gestörten bisher geduldet hat.

Ich liebe das Judentum, weil es den Menschen und die Menschheit liebt. Es ist uns geboten (3. Buch Mose 19,18), andere zu lieben – weil sie wie wir sind. Nicht, weil sie wie Gott sind. Sie sind so frei, wie wir es sein wollen. Diejenigen, die sagen, sie lieben die Menschen, aber die Menschen müssen das tun, was sie oder die Kirche oder die Partei erlaubt, haben etwas ganz Wichtiges nicht verstanden – oder sie hassen es: die Freiheit und den freien Willen.

Sie wollen alles für den Menschen bestimmen. Doch der Mensch soll frei sein, für sich selbst zu entscheiden, wie er seinen Lebensunterhalt verdient, wo er leben möchte, wohin er reist, in wen er sich verliebt und zu wem er betet.

Menschen, die diese Freiheit hassen, un­terdrücken andere »im Namen des Volkes«, »des Systems« oder »im Namen Gottes«. Sie handeln nicht aus Liebe, sondern aus Hass auf andere.

Aber der Mensch hat einen freien Willen. Zumindest nachdem er, ganz am Anfang, den Unterschied zwischen Gut und Böse gelernt hat, ist er – wie Gott – frei, selbst zu entscheiden.

Autorität In den Zehn Geboten – und in allen anderen auch – ist es nicht Mosche, der spricht, und es ist auch nicht die Partei oder ein religiöses Oberhaupt, sondern es ist Gott!

Es gibt so vieles, was wir zu tun in der Lage wären – aber wir sollen es eben nicht. Gebote und Verbote sind nur dann nötig, wenn wir frei sind. Wir können ihnen folgen oder sie ignorieren. Doch das ist ein Thema zwischen uns und Gott, nicht zwischen uns und irgendeinem Komitee oder selbst ernannten Vertretern Gottes. Wir können direkt mit Gott reden und umkehren, Teschuwa üben – ja, wir müssen es tun, denn es gibt keinen anderen, der es für uns tun könnte.

Die Gebote sind ein Zeichen dafür, dass wir frei sind – frei, etwas zu tun oder es nicht zu tun. Später, am Ende der Tora, wird Mosche das nochmals wiederholen: »Gott sagt, Er bietet euch das Leben oder den Tod, Segen oder Fluch. Wählt das Richtige!«

Wir wählen das Leben. Doch tun wir es nicht, weil wir unter einer Peitsche leben oder uns der Scheiterhaufen droht, sondern wir tun es als freie Menschen, die an Gott glauben.

Doch bei alledem sind auch Zweifel erlaubt. Oft sehen wir mehrere Möglichkeiten, und wir genießen das Leben, das Gott uns geschenkt hat. Aber keiner darf es uns in Gottes Namen nehmen – außer Gott selbst.

Der Autor ist Rabbiner bei Beit Polska, dem Verband progressiver jüdischer Gemeinden in Polen.

Inhalt
In Paraschat Jitro stellt die Tora Mosches Schwiegervater Jitro als religiösen, gastfreundlichen und weisen Menschen dar. Er rät Mosche, Richter zu ernennen, um das Volk besser zu führen. Die Kinder Israels lagern am Fuß des Berges Sinai und müssen sich drei Tage lang vorbereiten. Dann senkt sich Gottes Gegenwart über die Spitze des Berges, und Mosche steigt hinauf, um die Tora zu empfangen.
2. Buch Mose 18,1 – 20,23

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