Abaje

Tora und gute Taten

Abajes Diskussionen decken nahezu alle Aspekte des Lebens ab. Foto: Getty Images

Eine der herausragendsten Besonderheiten des Talmuds ist, dass er nicht nur »fertige« Entscheidungen präsentiert, also keine Sammlung halachischer Entscheidungen, sondern nahezu alle Diskussionen dokumentiert. Mit den Aufzeichnungen dieser Diskussionen lernen wir auch diejenigen kennen, die an ihnen teilnahmen.

Einer jener Beteiligten war »Abaje«, und ohne ihn hätte es eine ganze Reihe halachischer Entscheidungen nie gegeben – auch wenn er in der Regel derjenige Diskussionspartner war, nach dem die Halacha nicht entschieden wurde (Sanhedrin 27a).

GEBURT Schauen wir zurück ins Babylonien der Jahre 320 bis 350 n.d.Z. Dort kam Abaje, dessen tatsächlicher Name vermutlich Nachmani lautete, zur Welt. Die Umstände waren alles andere als glücklich. Schon vor seiner Geburt starb sein Vater, seine Mutter wohl kurz danach. Der Talmud teilt uns dies in aller Kürze mit: »Als die Mutter von Rabbi Jochanan mit ihm schwanger wurde, starb sein Vater. Seine Mutter starb, nachdem er zur Welt kam. Bei Abaje war es ebenso« (Kidduschin 31b).

Sein Onkel Rabba nahm ihn zu sich. Es wird angenommen, dass Rabbas Frau für Abaje eine Ersatzmutter wurde, denn nicht selten zitiert er seine »Mutter«, so etwa im Traktat Ketubot: »Meine Mutter sagte, dass Datteln, die man vor dem Verzehr von Brot isst, zerstörerisch sind wie eine Axt an einer Palme. Datteln, die danach gegessen werden, sind nützlich wie ein Riegel an einer Tür« (10b).

Für jeden Studierenden, der ein Mischna-Zitat vollendete, gab Abaje ein Festmahl.

Rabba stand seiner eigenen Jeschiwa vor, und dennoch war die Familie sehr arm. Über sie heißt es, dass es in ihrem Haus »60 Sorgen« gab (Moed Katan 28a).

Im Alter von nur 40 Jahren starb Abajes Onkel Rabba. Das Leben der Familie wurde also nicht besser. Abaje wandte sich daraufhin an Raw Josef bar Chija, der ihn als Schüler annahm. Viele ihrer Dispute sind überliefert.
Mit fortschreitendem Alter wurde Raw Josef jedoch vergesslich. Er sprach: »›Ich habe diese Halacha noch nicht gehört.‹ Abaje aber sprach zu ihm: ›Du hast uns diese Halacha gesagt!‹« (Eruwin 10a).

LEBENSMOTTO Nach dem Tod von Raw Josef stand Abaje dann dessen Jeschiwa vor. Er und seine Familie blieben arm. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, für jeden seiner Studierenden, der ein Traktat der Mischna beendete, ein Festmahl zu geben.

Sein Lebensmotto scheint in Berachot wiedergegeben worden zu sein: »Man sollte stets wachsam sein in seiner Furcht vor G’tt; eine sanfte Antwort vertreibt den Zorn; gehe freundlich mit Verwandten und Freunden um und mit allen Menschen, sogar mit einem Heiden auf der Straße. Auf diese Weise wird man von G’tt geliebt, von den Menschen bewundert und von allen Kreaturen willkommen sein« (17a). Von ihm sagt der Talmud, dass er an jedem Freitag Grüße aus der »himmlischen Jeschiwa« erhielt (Taanit 21b).

LEHRER Neben den Diskussionen mit seinem Onkel Rabba und seinem Lehrer Raw Josef enthält der Talmud Hunderte Diskussionen Abajes mit Rawa.

Rawa war, das kann man durchaus behaupten, das Gegenteil von Abaje. Er kam aus einem reichen Haus, und meist wurde nach ihm die Halacha entschieden, außer in sechs Fällen. Er sollte es sein, den Abajes Frau Choma nach dessen Tod noch um Geld bitten muss (Ketubot 65a).

In Berachot (48a) erfahren wir, dass beide anscheinend zusammen bei Rabba studierten, also einander seit ihrer Kindheit kannten. So fragte Rabba sie: »Wo residiert der Allbarmherzige?« Rawa zeigte zur Decke. Abaje hingegen ging hinaus und zeigte zum Himmel. Rabba sagte zu beiden: »Ihr werdet beide Weise werden.«

Tatsächlich sind ihre Diskussionen, auch bekannt als »Hawajot d’Abaje weRawa«, jene, die nahezu alle Aspekte des Lebens abdecken und somit wesentlich für den Talmud sind. So wesentlich, dass der Talmud behauptet, Jochanan ben Zakkaj habe sich mit ihnen beschäftigt (Sukka 28a), und dieser hat immerhin fast drei Jahrhunderte vor ihnen gelebt.

HERANGEHENSWEISE Das Gespräch der beiden mit ihrem Lehrer Rabba war eine Veranschaulichung ihrer Herangehensweise. Rawa sah die Präsenz G’ttes »innerhalb« des Lehrhauses. Abaje sah sie auch außerhalb des Lehrhauses.

Im Traktat Rosch Haschana (18a) diskutieren beide entsprechend: »Rawa sprach: ›Mit einem Opfer oder einer Opfergabe wird die Sünde des Hauses Eli nicht gesühnt (ein Verweis auf 1. Schmuel 2,33), aber sie kann durch Torastudium gesühnt werden.‹ Abaje sagte: ›Mit einem Opfer oder einer Opfergabe wird die Sünde des Hauses Eli nicht gesühnt, aber sie wird durch das Torastudium und wohltätige Taten gesühnt.‹«

Rabba und Abaje stammten aus dem Haus Eli. Es unterlag dem Fluch, dass die meisten seiner Nachkommen jung starben. Rabba, der sich fast ausschließlich mit dem Torastudium beschäftigte, lebte 40 Jahre, während Abaje, der sich sowohl mit dem Torastudium beschäftigte als auch mit guten Taten, 60 Jahre lebte.«

Wir erfahren auf diese Weise also, dass einer der Großen des Talmuds nur 60 Jahre alt wurde. Er bewies einen seiner Aussprüche durch sein eigenes Leben.

In dieser Reihe stellen wir in unregel­mäßigen Abständen Talmudgelehrte vor. Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025