Omerzählung

Tage der Orientierung

Foto: Getty Images

Wir leben in einem noch nie da gewesenen Überfluss, doch jetzt droht durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine ein massiver Mangel an Getreide. Die Preise sind um das 15-Fache gestiegen. Auf Russland und die Ukraine entfallen 30 Prozent der weltweiten Exporte von Weizen, Gerste und Mais. Getreide ist zu einer geopolitischen Waffe geworden.

Es ist wohl kein Zufall, dass dies auch in Zusammenhang mit der Omerzeit geschieht. Die Omerzeit liegt zwischen der Gersten- und der Weizenernte. Ein Zeichen des Himmels? Wieder einmal werden wir durch aktuelle Ereignisse wachgerüttelt, die sich mit Daten aus der Tora decken.

Was ist dieses Omer? Omer bedeutet – im übertragenen sozialen Sinne –, Verantwortung für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu übernehmen. Durch Corona-Masken und Social Distancing war es für uns leicht, das Menschliche und Soziale zu ignorieren und sich eine Zeit lang nur auf sich selbst zu konzentrieren. Schön und gemütlich war es in der eigenen Blase.

OPFER Jetzt müssen wir wieder herauskriechen. Aber wie? Die Omerzeit bietet uns einen festen Halt und Orientierungspunkt. Im 3. Buch Mose, Kapitel 23, Vers 15, heißt es, dass wir ein Omeropfer im Tempel darbringen und 49 Tage zählen müssen zwischen Pessach und Schawuot, dem Fest, an dem wir den Empfang der Tora auf dem Berg Sinai feiern.

Omer – wörtlich »Garbe« – ist ein Gersten-Opfer, das am zweiten Tag von Pessach dargebracht wird. In der Tora wird dies als »Bewegungsopfer« bezeichnet: Wir bewegen uns weg von unserer Trägheit und Passivität hin zu einer höheren Form des Lebens, des Engagements und der Nächstenliebe.

Gerste ist in erster Linie ein Tierfutter. Das bedeutet, beim Exodus befanden wir uns noch auf einem niedrigeren Niveau. An Schawuot bringen wir dann ein Weizen-Opfer in Form zweier Brote dar, weil wir in diesen sieben Wochen alle 49 menschlichen Eigenschaften geläutert und gereinigt haben und auf einer höheren menschlicheren Ebene angekommen sind.

SCHAUBROTE Diese beiden Brote waren eine der wenigen Opfergaben, die aus aufgegangenem Mehl hergestellt wurden. Fast alle anderen Mehlopfer bestanden aus der flachen Mazze, deren Grundlage ein ungesäuerter Teig ist. Was bedeutet dieses aufgegangene Opfer also?

Die Omerzeit ist die Zeit der Verbesserung der Beziehungen zu unseren Mitmenschen, eine Zeit des Nachdenkens über den zwischenmenschlichen »Sündenfall«, besonders in unserer Zeit.

Wir müssen auch unser aufgeblasenes Ego in Demut auf dem Altar der Anwesenheit G’ttes opfern. Unser übergroßes »Ich« verträgt sich nur schlecht mit der Liebe zu G’tt und unseren Mitmenschen. Das können wir tagtäglich erleben.

Nach dem Auszug aus Ägypten begann das jüdische Volk, 49 Tage bis zum Empfang der Heiligen Schrift zu zählen. Das neu befreite Volk zeigte damit, dass die Tora das endgültige Ziel des Exodus war. Erst danach konnten sie sich wirklich als jüdisches Volk bezeichnen. Die Juden sollten die Tora überallhin mitnehmen, wo sie in der Diaspora, der weltweiten Zerstreuung, lebten.

Wir würden erwarten, dass die Zeit des Zählens bis Schawuot eine freudige Zeit ist. Wir zählen die Tage bis zu dem Moment, in dem wir die Tora empfangen dürfen! Aber so soll es nicht sein. Das liegt daran, dass es vor und unmittelbar nach der Zerstörung des Zweiten Tempels vor 1952 Jahren viel Intoleranz gab, in deren Folge viele Menschen starben.

TRAUER Daher trauern wir in der Omerzeit. Auch heute noch gibt es viele Spaltungen und Unverträglichkeiten. Wir behandeln einander immer noch nicht mit Respekt und Empathie. Die Omerzeit ist die Zeit der Verbesserung der Beziehungen zu unseren Mitmenschen, eine Zeit des Nachdenkens über den zwischenmenschlichen »Sündenfall«, besonders in unserer Zeit.

Während der Omerzählung bereiten wir uns darauf vor, die Tora zu empfangen. Der Midrasch sagt uns, dass die Tora nur dann gegeben wurde, als sich alle in erträglicher Einigkeit akzeptieren konnten. Das ist die Idee der Omerzählung: Erziehung zur Toleranz nach dem Motto »Verbessere die Welt, fang bei dir selbst an« – und nicht bei den anderen.

Und wenn wir es schaffen, unsere Menschlichkeit wieder auf ein höheres Niveau zu heben, dann werden – natürlich mit G’ttes Hilfe – alle internationalen Konflikte und drohenden Engpässe verschwinden wie Schnee in der Sonne.

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  16.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025