Tischa beAw

Tag der Trauer


Am Sonntag ist Tischa beAw – der nach Jom Kippur wichtigste jüdische Fastentag. Es ist der Tag, an dem wir Juden der Zerstörung des Ersten sowie des Zweiten Tempels in Jerusalem – erst durch die Babylonier, dann durch die Römer – gedenken. Eigentlich fällt der 9. Aw in diesem Jahr auf Schabbat (6. August), jedoch ist das Fasten am Schabbat untersagt. Daher wird der Fastentag auf Sonntag verschoben und beginnt erst am Abend des 6. August. Essen und Trinken sind dann verboten, wir sitzen anstatt auf Stühlen auf dem Boden. Generell sind alle Aktivitäten untersagt, die irgendwie Freude hervorrufen könnten.

All das sind gute Gründe, noch einmal auf einen berühmten Satz von Napoleon zu verweisen, der als Herrscher Frankreichs im Vergleich zu anderen Potentaten seiner Zeit den Juden eher wohlgesonnen war und ihre rechtliche Gleichstellung vorantrieb. So soll er gegenüber seinem Arzt Barry O’Mear Folgendes geäußert haben: »Mein Wunsch war es, dass die Juden wie Brüder behandelt werden, so als ob wir alle Teil des Judentums wären.«

Legende Doch im Kontext mit Tischa beAw ist eine andere Bemerkung Napoleons von Bedeutung. Der Legende nach soll er bei einem sommerlichen Spaziergang durch die Straßen von Paris plötzlich ein herzzerreißendes Weinen und Schluchzen aus der Synagoge vernommen haben.

Neugierig betrat er daraufhin das G’tteshaus, und seinen Augen bot sich ein bizarrer Anblick. Der normalerweise lichtdurchflutete Gebetsraum wurde nur von einem Dutzend Kerzen schwach beleuchtet. Es herrschte eine bedrückte Stimmung. Die gesamte jüdische Gemeinde hatte sich in der Synagoge versammelt, alle saßen auf dem Boden, jammernd und weinend.

»Welche Tragödie ist bei euch geschehen, dass ihr so sehr trauert?«, fragte Napoleon verwundert einen seiner jüdischen Offiziere: »Heute ist Tischa beAw, und wir betrauern die Zerstörung des Tempels in Jerusalem«, lautete dessen Antwort. »Wie kann es sein, dass ich, der Kaiser der Franzosen, über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem nicht informiert wurde?«, rügte der Monarch einen Ratgeber, woraufhin der jüdische Offizier sofort versuchte, Napoleon zu beruhigen. »Eure Exzellenz, der Tempel in Jerusalem wurde vor über 1700 Jahren zerstört.«

anekdote Schwer beeindruckt erklärte Napoleon daraufhin: »Eine Nation, die so trauert, wird sicherlich in ihr Land zurückkehren und sehen, wie ihr Tempel wiederaufgebaut wird.« Diese Anekdote wurde zur Legende, von der mehrere Versionen kursieren. In einer von ihnen heißt es, dass sich Napoleon gewundert haben soll, ob man mit Tränen allein den Tempel zurückbringen könne. Dabei zeigte er vielsagend auf sein Schwert.

Welche der Versionen nun stimmt – und ob sich diese Geschichte überhaupt wirklich so zugetragen hat –, darüber scheiden sich weiterhin die Geister. Wie dem auch sei, im Talmud (Taanit 30b) finden wir einen ganz ähnlichen Satz, und zwar: »Jeder, der (die Zerstörung von) Jerusalem betrauert, wird den Verdienst haben, (Jerusalem) in Freude zu sehen.«

Aber die Frage, die sich uns allen beim Studium dieser Passage im Talmud quasi aufdrängt und die ich an Napoleons Stelle dem jüdischen Offizier gestellt hätte, würde folgendermaßen lauten: »Warum war oder ist die Zerstörung des Tempels für das jüdische Volk ein Ereignis von so großer Tragik, dass wir es über fast 2000 Jahre bis zum heutigen Tag immer noch betrauern?«

»Eine Nation, die so trauert, wird sicher in ihr Land zurückkehren«, soll Napoleon gesagt haben.

Der von Herodes erbaute Zweite Tempel soll ein wahres Meisterwerk der Architektur gewesen sein, geradezu atemberaubend und prunkvoll mit Gold und Marmor verziert. Deshalb wird er im Talmud (Zevachim 54b) als »Schönheit der Welt« bezeichnet, und an anderer Stelle (Sukka 51b) ist zu lesen: »Wer das Gebäude von Herodes nicht gesehen hat, hat in seinem Leben noch nie ein schönes Gebäude gesehen.«

Doch betrauern wir seit fast 2000 Jahren nur ein schönes Gebäude? Dazu sollte man wissen: Im Jahr 70 n.d.Z. zerstörten die Römer nicht nur den Tempel. Darüber hinaus verschleppten sie auch einen Großteil des jüdischen Volkes in alle Regionen des Imperiums. Das Ende des Zweiten Tempels markiert also ebenfalls den Beginn des Exils, das bis in die Gegenwart andauert.

verlust Mit dem Verlust der Heimat wird das jüdische Volk gleich einem Schaf unter 70 Wölfen, das von Land zu Land wandert. Dabei ist es hilflos den unzähligen Verfolgungen, Vertreibungen und Pogromen ausgeliefert. Seit der Zerstörung des Tempels ist die jüdische Geschichte geradezu mit Blut geschrieben – davon zeugen die Inquisition oder die Schoa, nur um einige der bekanntesten Beispiele zu nennen.

Aber auch nach der Rückkehr in den jüdischen Staat müssen die in Israel lebenden Juden fast täglich um ihr Leben fürchten. Die Zahlen sprechen dabei eine deutliche Sprache: So kamen seit 1948 über 24.000 israelische Soldaten und Zivilisten durch Kriege oder Terror zu Tode.

An Tischa beAw betrauern wir also nicht nur die Zerstörung des Zweiten Tempels vor 2000 Jahren, sondern ebenfalls all das Leid, das das jüdische Volk im Laufe seines Exils ertragen musste und gegenwärtig noch erträgt. Auch die Kinnot (Klagelieder), die zu Tischa beAw rezitiert werden, thematisieren das Ende der beiden Tempel wie auch spätere Tragödien, so etwa die Vernichtung der Gemeinden der SchUM-Städte während des Ersten Kreuzzugs. Die zwei jüngsten Kinnot, verfasst von Rabbi Schlomo Halberstam (1908–2000) und Rabbi Schimon Schwab (1908–1995), haben die Schoa zum Gegenstand.

feldzug Aber es gibt noch einen Grund für die Trauer an Tischa beAw. So begleitete der Legende nach der griechische Philosoph Platon den babylonischen König Nebukadnezar bei seinem Feldzug in Israel. Nach der Zerstörung des Ersten Tempels traf er auf den weinenden Propheten Jirmijahu in den Ruinen des zerstörten Tempels. Platon bat ihn um Erlaubnis, zwei Fragen stellen zu dürfen: Erstens, wie kommt es, dass solch ein herausragender und intelligenter Gelehrter und verehrter Prophet, wie er es sei, ein Gebäude aus Holz und Stein betrauert? Zweitens, welchen Zweck haben all diese Tränen, nachdem der Tempel schon zerstört sei?

Ohne auf Platons Fragen direkt einzugehen, wollte Jirmijahu von ihm wissen, ob es philosophische Probleme gebe, auf die er keine Antwort habe. Nachdem Platon dies bejahte, forderte Jirmijahu ihn auf, diese mit ihm zu teilen. Sofort und mit Leichtigkeit löste der Prophet alle komplexen Fragestellungen, die ihm der weltberühmte Philosoph präsentiert hatte. Platon war zunächst sprachlos.

Seit der Zerstörung des Tempels hat die Schechina keine Heimstätte in dieser Welt.

»Wie kann ein Mensch aus Fleisch und Blut so weise sein?«, fragte er dann. »All das Wissen und die tiefgründigen Weisheiten stammen aus genau diesem Gebäude, das jetzt in Trümmern liegt, und das ist der wahre Grund für meine Trauer«, antwortete Jirmijahu. »Deine zweite Frage kann ich dir nicht beantworten, weil du nicht in der Lage sein wirst, die Antwort zu verstehen«, erklärte der Prophet und brach erneut in Tränen aus.

Brücke Der Tempel in Jerusalem war viel mehr als nur ein prachtvolles Gebäude, es war die g’ttliche Residenz in der irdischen Welt. Er sollte die Brücke zwischen den Welten sein und die Verbindung zwischen G’tt und dem jüdischen Volk darstellen. An diesem Ort war die Schechina, die g’ttliche Präsenz, offensichtlich und spürbar.

Dreimal im Jahr versammelte sich dort das jüdische Volk zu den Schalosch Regalim, den drei Wallfahrtsfesten, und zwar Pessach, Schawuot und Sukkot, um seine Verbindung zu G’tt zu stärken und zu erneuern. Und an Jom Kippur sahen alle Besucher des Tempels mit ihren eigenen Augen, wie sich die Farbe des roten Bandes auf dem Kopf des Widders in Weiß verwandelte, ein Zeichen dafür, dass G’tt dem jüdischen Volk seine Sünden verziehen hat.

Seit der Zerstörung des Tempels hat die Schechina keine Heimstätte in dieser Welt, und die Nähe zwischen G’tt und dem jüdischen Volk ist nicht mehr dieselbe wie zu dessen Zeiten. Wir spüren diese Entfernung jeden Tag, wenn es uns schwerfällt, die Gebote der Tora zu erfüllen und G’tt in unserem Leben zu erkennen. Allein deshalb ist für uns Juden die Zerstörung des Tempels kein historisches Ereignis, das vor fast 2000 Jahren stattgefunden hat, sondern tagtägliche Realität.

Verbindung Doch was erreichen wir mit der Trauer und all den vergossenen Tränen? Schließlich ließ es G’tt zu, dass der Tempel zerstört wurde, weil dem jüdischen Volk die Nähe und die Verbindung zu G’tt nicht wichtig genug waren. Unsere Trauer und Tränen an Tischa beAw bezeugen, wie wichtig uns die Nähe zu G’tt ist und wie sehr wir darunter leiden, nicht in der Lage zu sein, dieses enge Verhältnis mit G’tt zu haben.
Aber noch einmal zurück zu Napoleon. Der Monarch wurde für seine positive Einstellung gegenüber den Juden innerhalb und außerhalb von Frankreich kritisiert. So bezeichnete ihn die Russisch-Orthodoxe Kirche deshalb sogar offiziell als »Antichrist« und »Feind Gottes«.

Laut Ben Weider, einem kanadischen Historiker und Bestsellerautor, hatte Napoleon während der Belagerung von Akko im Jahr 1799 eine Proklamation unterzeichnet, wonach Palästina nach dessen vollständiger Eroberung in einen unabhängigen jüdischen Staat umgewandelt werden sollte. Umgesetzt wurde diese Eroberung jedoch nie, weil die Franzosen von den Engländern aus der Region wieder vertrieben wurden.

»Eine Nation, die so trauert, wird sicherlich in ihr Land zurückkehren und sehen, wie ihr Tempel wiederaufgebaut wird.« Wäre die Geschichte anders verlaufen, müssten wir nicht 150 Jahre auf die Erfüllung der ersten Hälfte seines Satzes warten, und wer weiß, vielleicht wäre damals auch die zweite Hälfte Realität geworden – eine schöne Vorstellung.

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Jerusalem.

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