Talmudisches

Sorge um die Nachwelt

Niemand kann so sein wie der andere. Foto: Thinkstock

Ein Midrasch erzählt: Als Mosche in den Himmel aufstieg, um die Tora zu empfangen, da sah er den Ewigen, wie er Ornamente auf die einzelnen Wörter der Tora setzte. Er fragte nach dem Anlass und erhielt als Antwort: »Es wird einen Mann geben in der Zukunft mit Namen Akiwa ben Josef. Er wird in jedem Wort und jeder Silbe eines jeden einzelnen Strichleins in der Tora riesige Mengen von Gesetzen und Verordnungen erkennen.

Da sagte Mosche: »Herr der Welt, lass mich ihn bitte sehen!« Und Gott sagte zu ihm: »Dreh dich um und geh rückwärts!« Da drehte sich Mosche um und fand sich im Lehrhaus von Rabbi Akiwa wieder. Mosche setzte sich in die letzte Reihe. Doch er verstand den Sinn der Dinge nicht, die dort besprochen wurden. Das betrübte ihn.

Sinai Die gelehrte Diskussion aber gelangte an eine Stelle, die einer Erklärung bedurfte. Da fragten die Schüler ihren Meister: »Woher stammt diese Interpretation?« Er erwiderte: »Halacha leMosche miSinai – Das Gesetz ist von Mosche am Sinai überliefert worden.« Als Mosche das hörte, war er wieder frohen Sinnes.

Und abermals trat er vor den Ewigen und sprach zu Ihm: »Herr der Welt! Einen solchen Mann hast Du vor zu erschaffen, und durch mich gibst Du die Tora?!«

Der Ewige erwiderte: »Schweig still, das ist mein Ratschluss, mein Wille.« Da sprach Mosche: »Herr der Welt! Du hast mich sein Tun sehen lassen, lass mich auch seinen Lohn sehen!« Wieder sprach Gott zu ihm: »Dreh dich um und geh rückwärts!«

Da drehte sich Mosche erneut um und sah, wie Rabbi Akiwa von den Römern zu Tode gefoltert wurde. Erschrocken fragte er den Ewigen: »Ist das der Lohn für das Studium der Tora?!« Gott antwortete: »Sei still, so ist mein Ratschluss, mein Wille« (Menachot 29b).

Israel Mosche sorgt sich um seine Nachwelt und möchte die Folgen seines Wirkens und die Überlieferung durch die Tora und ihre Gesetze in Erfahrung bringen. Er weiß genau: Es ist nicht nur sein Vermächtnis, das er den Kindern Israel hinterlässt, es ist auch die Vertragsbindung durch die Tora, die er seinen Nachkommen aufbürdet. Darum stellt er Gott die Frage, wie die Zukunft der Juden durch die Tora aussehen wird. Und der Ewige antwortet ihm auf die Art und Weise, wie eben Gott uns Menschen belehrt.

Nun dürfen wir uns von dieser Geschichte nicht Angst machen lassen. Vergessen wir nicht, dass Rabbi Akiwa der Legende nach 120 Jahre alt wurde und wir von seinem Wirken und seinen Lehren bis heute profitieren. Jeder Mensch würde aus dem Gleichgewicht geraten, wenn Gott ihm die unzähligen, grausamen Schicksale anderer Menschen offenbaren würde.

Doch darum geht es nicht in unserer Geschichte. Vielmehr wird hier gefragt: Was passiert, wenn ich Tora lerne? Gibt es einen Lohn dafür? Muss ich so sein wie Mosche und Rabbi Akiwa, die für uns religiöse Vorbilder schlechthin sind?

Eine kleine Geschichte soll uns hier etwas Klarheit verschaffen: Ein betagter Rabbiner ist im hohen Alter in die nächste Welt hinübergegangen und darf sich gleich nach seinem Tod beim Ewigen für sein Schalten und Walten rechtfertigen.

Der Ewige fragt ihn: »Wie war dein Wirken? Warst du ein gerechter Rabbiner?« Der Rabbi überlegt kurz und antwortet: »Ein Mosche war ich nicht.« Darauf erwidert der Ewige: »Ich habe nicht gefragt, ob du ein Mosche warst, sondern ob du du selbst warst!«

Vorbild Wir alle wollen dem Vorbild von Awraham, Mosche oder Rabbi Akiwa folgen und so sein wie sie. Doch wir übersehen eine wichtige Sache: Niemand kann so sein wie der andere. Jeder steht in seinem Leben vor individuellen Herausforderungen – und darum können wir uns schlecht mit den Größen der Vergangenheit messen.

Doch wie die Geschichte von Mosche und Rabbi Akiwa zeigt, können sich auch die Größen der Vergangenheit nicht mit uns messen. Auch ein Mosche hat als Mensch seine Grenzen. Wichtig ist, sich dieser Grenzen bewusst zu sein und dadurch sein eigenes Wirken zu optimieren.

In jedem von uns steckt ein Meister, der nach Freiheit strebt. Diesen Meister zu entfesseln, unabhängig vom Lohn, der uns erwartet, das ist die wahre Natur der Dinge.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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