Ki Tissa

Sei du selbst!

Marilyn Monroe zum Verwechseln ähnlich: Vorbilder spielen heute mehr denn je eine Rolle. Foto: Getty Images / istock

»Wichtig ist, dass man nicht aufhört zu fragen. Neugier hat ihren eigenen Seinsgrund. Man kann nicht anders als die Geheimnisse von Ewigkeit, Leben oder die wunderbare Struktur der Wirklichkeit ehrfurchtsvoll zu bestaunen. Es genügt, wenn man versucht, an jedem Tag lediglich ein wenig von diesem Geheimnis zu erfassen. Diese heilige Neugier soll man nie verlieren.» Dieses Zitat stammt von Albert Einstein. Der behauptete von sich, nicht besonders intelligent zu sein, doch beschäftigte er sich gern länger mit einem bestimmten Problem.

Im Gegensatz zu Einstein fällt es vielen Menschen schwer, sich in eine Sache tief hineinzudenken. Doch um erfolgreich zu sein, sei es im Privatleben oder im Beruf, benötigt man diesen Fokus. Darum suchen wir uns oft Vorbilder, von denen wir etwas abschauen und lernen können. Ich denke, dass Vorbilder heute wegen ihrer medialen Ausstrahlung mehr denn je eine Rolle spielen. Sind wir doch durch Internet, Fernsehen und Radio informierter, als es unsere Vorfahren je waren.

Auch ein so weiser und bescheidener Mann wie Mosche beging Fehler.

Neuigkeiten über jemanden gelangen innerhalb von Sekunden zu uns – auch die unglücklichen Entgleisungen eines berühmten Sportlers, über dessen Schicksalsschlag wir mehr wissen wollen, oder die Skandale von Prominenten. Unsere Vorbilder scheinen eines gemeinsam zu haben: Sie wackeln allesamt und verlieren in unseren Augen dadurch an Achtung, büßen gar ihre Vorbildfunktion ein.

Fehler Doch warum suchen wir nach Menschen mit Vorbildcharakter? Wozu brauchen wir Leute, zu denen wir aufschauen können? Eine moralische Instanz zu sein, ein Vorbild, ist eine enorme Herausforderung. Menschen, an denen wir uns orientieren, haben kein leichtes Leben. Sie stehen im Vordergrund und werden oft zu Rate gezogen. Doch sie bleiben Menschen, mit all ihren guten und ihren schlechten Seiten.

Sehen können wir das an den Vorbildern in der Tora. Nehmen wir Mosche: Er vermochte es, mit Gott direkt zu sprechen. Aber auch ein so weiser und bescheidener Mann wie Mosche beging Fehler. So schlug er zum Beispiel mit seinem Stab gegen einen Stein – aber nicht nur einmal, wie Gott es ihm befohlen hatte, um Wasser hervorzubringen, sondern zweimal. Er tat es aus Wut auf das Volk Israel, das gegenüber den Wundern Gottes blind zu sein schien. Die Strafe für Mosche war sehr drastisch: Nach 40-jähriger Wanderschaft durch die Wüste durfte er das Gelobte Land nicht betreten und starb auf der «falschen Seite» des Jordans.

Warum suchen wir nach Menschen mit Vorbildcharakter? Wozu brauchen wir Leute, zu denen wir aufschauen können?

massstäbe Obwohl für uns, die Kinder Israels, höhere Maßstäbe zu gelten scheinen und wir an uns auch höhere Maßstäbe anlegen, sind wir doch nicht vor Fehlern gefeit. In der Parascha Ki Tissa haben wir uns einen ganz besonderen Fauxpas erlaubt. Es handelt sich um die größte Sünde, die man in der Tora gegen Gott begehen kann: Götzendienst. Was war passiert?

Kurz gefasst: Wir waren am Berg Sinai und warteten auf Mosche, der von Gott persönlich Gebote bekam. 40 Tage und Nächte blieb er auf dem Berg, und wir bauten in der Zwischenzeit einen goldenen Götzen – ein Kalb aus purem Gold. Wie kann ein Volk, dass so viele Wunder erlebt hat, so eine Sünde begehen und etwas derartiges anfertigen?

Darauf eine einfache Antwort zu finden, ist nicht leicht. Man stelle sich den Auszug und die Wunder vor, die wir gesehen haben – und trotzdem begingen wir eine solche Sünde. Das Volk Israel hat sich also an Gott versündigt und Mosches Vertrauen missbraucht. Es war leider blind für die Wunder Gottes und begriff nicht, was es tat. Kaum war Mosche den Berg hinaufgestiegen und erhielt die Zehn Gebote von Gott, da feierte das Volk zügellose Feste und baute sich einen goldenen Götzen.

Viel wichtiger ist unser eigener Fortschritt auf unserem persönlichen Lebensweg.

Eine Erklärung dafür könnte darin bestehen, dass wir taten, was wir bei den Ägyptern gelernt hatten, oder dass wir als Volk noch nicht genügend Vertrauen in Gott hatten. Deshalb nahmen wir uns die Ägypter als Vorbild.

Chance In unserer Parascha lesen wir, dass das Volk Israel sich im Grunde genommen vor Gott «tödlich versündigt» hat (2. Buch Mose 32,10). Gott geht trotzdem mit den Kindern Israels einen Bund ein. Er bestraft sie zwar, aber lässt das Volk am Leben. Er gibt uns also eine weitere Chance.

Dieses Beispiel aus der Tora soll uns zeigen, dass es kein perfektes Volk und keine perfekten Menschen gibt. Selbst die Weisesten begehen Fehler und müssen dafür geradestehen. Aber viele Menschen suchen sich falsche Vorbilder, machen dadurch vieles falsch und richten großen Schaden an.

Fehler zu machen, ist ein Teil der menschlichen Natur.

Doch Fehler zu machen, ist ein Teil der menschlichen Natur. Nur haben wir zeitlebens die Aufgabe, aus ihnen zu lernen. Es ist nicht wichtig, ob der Mann oder die Frau neben uns viel erfolgreicher ist als wir. Viel wichtiger ist unser eigener Fortschritt auf unserem persönlichen Lebensweg. Diesen kann uns keiner abnehmen. Aber Vorbilder können uns in dem Wissen bestärken, dass sie selbst auch Menschen und als solche nicht vollkommen sind.

Gott möchte, dass wir lernen und verstehen – damit wir unseren eigenen Weg finden. Ohne Erziehung und Unterweisung ist der Mensch dem Tier gleich. Darum ist es unsere Aufgabe, ein Leben lang zu lernen und auch unsere Kinder zu unterweisen. Damit sie sich an Vorbildern orientieren können, aber ihren eigenen Lebensweg finden.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

INHALT
Zu Beginn des Wochenabschnitts wird Mosche damit beauftragt, die wehrfähigen Männer zu zählen. Es folgen Anordnungen für das Stiftszelt. Die Gesetze des Schabbats werden mitgeteilt, und es wird die Bedeutung des Ruhetags als Bund zwischen Gott und Israel betont. Der Ewige gibt Mosche zwei Steintafeln, mit denen er ins Lager der Israeliten zurückkehrt. Dort haben sich die Wartenden in der Zwischenzeit ein goldenes Kalb gegossen, dem sie Opfer darbringen. Im Zorn darüber zerbricht Mosche die Steintafeln, und der Ewige bestraft die Israeliten mit einer Plage. Später steigt Mosche auf den Berg und erhält neue Bundestafeln.
2. Buch Mose 30,11 – 34,35

Wajeze

»Hüte dich, darüber zu sprechen«

Die Tora lehrt, dass man ein Gericht anerkennen muss und nach dem Urteil nicht diskutieren sollte

von Chajm Guski  06.12.2024

Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024

Hildesheimer Vortrag 2024

Für gemeinsame Werte einstehen

Der Präsident der Yeshiva University, Ari Berman, betonte die gemeinsamen Werte der jüdischen und nichtjüdischen Gemeinschaft

von Detlef David Kauschke  05.12.2024

Naturgewalt

Aus heiterem Himmel

Schon in der biblischen Tradition ist Regen Segen und Zerstörung zugleich – das wirkt angesichts der Bilder aus Spanien dramatisch aktuell

von Sophie Bigot Goldblum  05.12.2024

Deutschland

Die Kluft überbrücken

Der 7. Oktober hat den jüdisch-muslimischen Dialog deutlich zurückgeworfen. Wie kann eine Wiederannäherung gelingen? Vorschläge von Rabbiner Jehoschua Ahrens

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  05.12.2024

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024

Talmudisches

Elf Richtlinien

Wie unsere Weisen Psalm 15 auslegten

von Yizhak Ahren  29.11.2024

Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Manche Israelis feiern auf den Straßen, wenn Terroristenführer getötet werden. Doch es gibt rabbinische Auslegungen, die jene Freude über den Tod von Feinden kritisch sehen

von Rabbiner Dovid Gernetz  29.11.2024