Pessach

»Sei a gutte Jid!«

»Und du sollst deinem Sohn sagen« (2. Buch Moses 13,8). Foto: Flash 90

Pessach

»Sei a gutte Jid!«

Wie wir unseren Kindern die Lehre des Auszugs aus Ägypten vermitteln können

von Jonathan Rosenblum  12.04.2011 11:07 Uhr

Ein angesehener Toragelehrter erzählte mir einmal folgende Geschichte. Genauer gesagt sind es ineinandergeschachtelte Geschichten, die die Bedeutung der Mizwa des Sederabends, »Und du sollst deinem Sohn sagen«, verdeutlichen.

Vor einigen Jahren fuhr er mit seiner Familie ein paar Tage vor Pessach zu einer kleinen Siedlung in Galiläa, um dort Schabbat Hagadol zu feiern. Die meisten Bewohner der Siedlung waren einfache Menschen, die in der Hauptsache von der Vermietung von Ferienhäusern an Sommerurlauber lebten. Die Ankunft des Toragelehrten erregte in der Siedlung großes Interesse, und man bat ihn, die traditionelle Drascha am Schabbat Hagadol zu halten.

Thema Mein Freund war daran gewöhnt, vor fortgeschrittenen Jeschiwa- und Kollelstudenten zu sprechen. Wovon sollte er vor einem zum großen Teil in Fragen der Tora ungebildeten Publikum reden, damit es von seinem Vortrag profitierte? Am Ende entschied er sich, davon zu sprechen, wie unendlich wertvoll der Sederabend ist und wie wir das Beste aus der Gelegenheit, die er bietet, machen können.

Der Sederabend, betonte er, ist viel mehr als eine wunderbare Gelegenheit für die ganze Familie – oft drei Generationen –, gemeinsam um den Tisch zu sitzen. Es ist die Zeit, wo ein Vater seinen Kindern das Wesen seines »ani ma’amin« vermittelt, das, wofür er im Gedächtnis behalten werden möchte, wichtiger noch, das, von dem er möchte, dass seine Kinder danach leben.

Talmid Um ihnen klarzumachen, wovon er sprach, erzählte er ihnen Folgendes: Einer der Talmidim an der Jeschiwa, an der mein Freund als Rabbiner unterrrichtete, hatte seinen Vater verloren. Mein Freund ging zu seinem Schüler, um ihm Trost zu spenden. Der Talmid erzählte ihm, sein Vater habe wenig Gelegenheit gehabt, die Tora zu studieren. Als Kind kam er mit einem der Kindertransporte aus Deutschland nach England. Weil er ganz allein war, wurde er schließlich von England nach Palästina geschickt. Nach seiner Ankunft schlug er sich nach Petah Tikva durch.

Obwohl er nie eine Jeschiwa besucht hatte, blieb er fromm, und mit der Zeit wurde er unentbehrlich bei allem, was die Große Synagoge von Petah Tikva betraf. Und alle seine Söhne wurden Toragelehrte.

Mein Freund fragte den älteren der Söhne: Wie war es möglich, dass jemand, der über keine formale Bildung verfügte und von Kind an auf sich allein gestellt war, so viel Verantwortung übernahm und mit seinen eigenen Kindern so erfolgreich war? Der junge Mann antwortete, er habe erst vor Kurzem zum ersten Mal über diese Frage nachgedacht.

Bis dahin war sein Vater bloß sein Vater, und alles an ihm war eben so, wie es war. Doch als er sich schließlich die Frage stellte, wie sein Vater seinem Judentum treu geblieben war, während viele Menschen unter scheinbar günstigeren Voraussetzungen dazu nicht in der Lage waren, fragte er seinen Vater danach. Sein Vater antwortete mit einer Geschichte aus seiner eigenen Kindheit.

Abschied Als er ein Kind war, noch keine zehn Jahre alt, wurde er von seinem Vater aus der kleinen Stadt in Österreich, wo sie wohnten, nach Deutschland geschickt. Aus irgendeinem Grund durfte nur er die Grenze passieren. Vater und Sohn saßen frühmorgens im Dunkeln und warteten auf den Zug, der sie für immer trennen würde. Keiner von ihnen sprach ein Wort.

Schließlich tauchten die Lichter des Zugs auf. Als der Vater seinen Sohn in den Zug hob, brach er das Schweigen. »Sei a gutte Jid – Bleib ein guter Jude«, sagte er seinem Sohn. Als der Zug sich aus dem Bahnhof zu bewegen begann, lief der Vater neben ihm her und rief: »Sei a gutte Jid.« Der Zug beschleunigte, und der Vater lief ihm immer noch nach und schrie: »Sei a gutte Jid.« Beim Laufen stolperte der Vater und fiel lang ausgetreckt auf den Bahnsteig. Dieses Bild vergaß der Junge nie. Und er erfüllte das Versprechen, selbst unter den widrigsten Umständen.

Nachdem er die Geschichte von jenen letzten Minuten zwischen einem jüdischen Vater und seinem Sohn und ihre Wirkung auf ein Leben beendet hatte, beschwor mein Freund seine Zuhörer, den Sederabend so zu sehen, als ginge es um die letzten fünf Minuten, die sie mit ihren Kindern verbringen, um die letzte Gelegenheit, sie zu beeinflussen.

Fingerzeig Und wie sollen wir das Gebot »Und du sollst deinem Sohn sagen?« erfüllen? Indem wir ihm sagen: »b’avur zeh asah Hashem li b’zaisi m’Mizrayim – augrund dessen, was Haschem bei meiner Flucht aus Ägypten an mir getan hat.« »Zeh« (dieses) ist die Sprache des Fingerzeigens. Die Flucht aus Ägypten muss etwas ganz Konkretes für uns sein, ein tatsächliches Ereignis, an dem wir teilhaben. Nur dann wird es auch für unsere Kinder wirklich.

Um das zu erreichen, müssen wir uns Zeit nehmen, den Sederabend vorzubereiten mit jener Art von Visualisierung, die vom Alter von Kelm geschildert wird: »Normalerweise hat das, was vor vielen, vielen Jahren geschah, keine Macht, einen tiefen Eindruck auf uns zu machen. Daher lehren uns die Weisen, uns mit allen Sinnen hinzugeben und uns die Ereignisse immer wieder bildlich vorzustellen, bis zu dem Punkt, an dem wir sie persönlich erleben. Nur so wird die Erinnerung an Ägypten eine tiefe Wirkung auf einen Menschen haben.«

Es genügt nicht, bloß die Verse der Tora zu lesen; wir müssen uns vorstellen, dass wir gerade vor Ort sind, wenn die Seuchen Ägypten zerstören, am ersten Sederabend, wenn sich das Rote Meer teilt. Und dann können wir diese Ereignisse auch in die Herzen unserer Kinder einpflanzen. Wir sollten die Gelegenheit nicht unnütz verstreichen lassen.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von www.jewishmediaresources.com

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