Entscheidung

Sehen und handeln

Wenn Schritte die Welt verändern: Der amerikanische Astronaut Edwin Aldrin betritt den Mond, Juli 1969. Foto: dpa

Der Wochenabschnitt Schemot eröffnet eine neue geschichtliche Entwicklungsphase des jüdischen Volkes. Jakows Familie, die, als sie nach Ägypten ging, nur 70 Seelen zählte, ist jetzt zu einer Nation gereift. Doch das Volk der Juden wird von der Obermacht des Landes, dem neuen Pharao, systematisch unterdrückt, erniedrigt und zu Sklavenarbeit gezwungen. Die Qualen werden immer unerträglicher. In den Schriften unserer Weisen finden wir den Ausspruch: »Der Ewige fertigt zuerst die Medizin an und schickt erst dann die Krankheit«. Zu Beginn des zweiten Buches der Tora wird Mosche geboren, um später als Erlöser und G’ttesprophet das außerwählte Volk aus Ägypten zu führen.

Der faszinierenden Geschichte der Errettung des kleinen Mosche und sein Aufstieg zum jüdischen Prinzen im Hause von Pharao (2. Buch Moses Kapitel 2) folgt die Erzählung vom brennenden Dornbusch (Kapitel 3). Sie nimmt eine ganz besondere Stellung in der Geschichte des Auszugs ein. Uns interessiert dabei Mosches eigene Perspektive, sie soll im Folgenden unter die Lupe genommen werden.

feuerflamme Die Tora berichtet, wie Mosche die Schafe seines Schwiegervaters Jithro hütete und der Ewige sich ihm offenbarte. »Da erschien ihm ein Engel des Ewigen in einer Feuerflamme aus dem Dornbusch, und als er hinsah, siehe, da stand der Dornbusch in Flammen, und der Dornbusch wurde nicht verzehrt. Da sagte sich Mosche, ich will mich abwenden vom Weg und diese wundersame Erscheinung betrachten. Warum verbrennt der Dornbusch nicht? Als der Ewige sah, dass er hinzutrat, um nachzusehen, da rief ihm G’tt aus dem Dornbusch zu und sprach: Mosche! Mosche!« (3, 2-4). Dieses Gespräch und die darauffolgenden Handlungen führen letztlich zum Auszug aus Ägypten.

Warum erwähnt die Tora ausdrücklich, dass Mosche sagt, er wolle »hingehen und diese wundersame Erscheinung betrachten«? Und warum ruft der Ewige Mosches Namen erst, nachdem er dessen Interesse an dem brennenden Dornbusch erkennt?

In der Tora, in der niemals ein Wort ohne Grund benutzt wird, könnte stehen: Mosche sah, dass der Dornbusch in Flammen stand, jedoch nicht verbrannte. Er wandte sich vom Weg ab, um die wundersame Erscheinung zu sehen. Und der Ewige rief ihm aus dem brennenden Dornbusch zu: Mosche! Mosche!

Im Midrasch Tanchuma lesen wir eine Diskussion darüber, ob Mosche drei Schritte machte oder nur seinen Hals ausstreckte. Auch wenn er nur genau nachsehen wollte, erkennt der Ewige, Mosche habe sich die Mühe gemacht nachzusehen. Das ist der Moment, in dem er für die Offenbarung erkoren wird. Der Midrasch war bemüht, den tieferen Sinn der Handlung zu verstehen, warum Mosche nun die Entscheidung traf, sich das Ereignis näher anzusehen. Dennoch, warum ist dies eine verdienstvolle Handlung? Rennen nicht alle hin, wenn es einen Brand zu sehen gibt?
träume In den frühen 20er-Jahren machte Silas Hardoon, ein sefardischer Millionär, ein Vermögen in China. Kinderlos, begann er sein Geld an chinesische Wohltätigkeitsorganisationen zu verteilen. Eines Nachts erschien ihm im Traum sein Vater und bat ihn, etwas für sein eigenes Volk zu tun. Silas achtete nicht darauf. Schließlich gab es kaum Juden in China. Die Träume blieben, und Silas beschloss zu handeln. Er sprach mit Chacham Ibrahim, einem sefardischen Rabbiner, der eine kleine jüdisch-chinesische Gemeinde führte. Der Rat des Chachams klang seltsamer als die Träume: Er sagte zu Silas, er solle mitten in Schanghai eine wunderschöne Synagoge bauen. Sie sollte mehr als 400 Sitzplätze, eine Küche und ein Esszimmer haben. Hardoon folgte dem Rat bis aufs kleinste Detail und nannte die Synagoge in Erinnerung an seinen Vater »Bais Aharon«. Einige Jahre später starb Hardoon, und es blieb kaum ein Minjan, der das prächtige Gebäude nutzen konnte.

Doch im Jahr 1940 gab der japanische Konsul in Litauen, Sempo Sugihara, Tausenden von Juden ein Visum, das ihnen die Flucht nach Curaçao über Japan ermöglichte. Unter den Emigranten befanden sich die Lehrer und Schüler der berühmten Mirrer Jeschiwa. Die Flüchtlinge kamen in der japanischen Hafenstadt Kobe an, wurden dann aber nach Schanghai transportiert, wo sie während des gesamten Krieges blieben. Die Mirrer Jeschiwa erhielt ein schönes Zuhause, mit einem Beit Midrasch, einer Küche und geräumigem Esszimmer – in der Synagoge Bais Aharon. Das Gebäude war groß genug, um allen Schülern die Möglichkeit zu bieten, während der fünf furchtbaren Kriegsjahre intensiv Tora zu lernen. Der Traum von Hardoon war zu einer blühenden Wirklichkeit geworden.

veränderung Mosche, unser Lehrer, wusste von dem Moment an, da er den brennenden Dornbusch sah, dass etwas Außergewöhnliches passiert. Er musste eine Entscheidung treffen: herantreten oder vorbeigehen. Er wusste genau, dass es sein Leben verändern würde, wenn er sich nähert. Der Ewige ließ Mosche diesen schwierigen Konflikt selbst bewältigen. Mosche tat aus eigenem Willen den Schritt, der den Lauf der Geschichte veränderte. Sein Einsatz für sein Volk wird Aufopferung erfordern. Dieser Einsatz führt schließlich zur Befreiung und zur Führung des Volkes ins Heilige Land, obwohl Mosche selbst das Land nie betreten wird.

In allen Bereichen unseres Lebens erleben wir Situationen, die uns dazu auffordern, uns zu verändern. Es kann etwas weniger Kritik an den Mitmenschen, mehr aktive Zeit mit der Familie, die Unterstützung einer Wohltätigkeitsorganisation sein, oder jede andere gute Sache, für die wir uns entscheiden. Die Gegebenheiten verlangen von uns hinzuschauen und einige Schritte zu tun. Wenn wir dagegen wegschauen, kann es sein, dass wir nicht nur ein brennendes Problem ignorieren, sondern einen neuen brennenden Busch übersehen.

Wajischlach

Wahre Brüder, wahre Feinde?

Die Begegnung zwischen Jakow und Esaw war harmonisch und belastet zugleich

von Yonatan Amrani  13.12.2024

Talmudisches

Licht

Was unsere Weisen über Sonne, Mond und die Tora lehren

von Chajm Guski  13.12.2024

Hildesheimer Vortrag

Das Beste im Menschen sehen

Der Direktor der Yeshiva University, Rabbiner Ari Berman, zeigt einen Ausweg aus dem Frontendenken unserer Zeit

von Mascha Malburg  13.12.2024

Debatte

Rabbiner für Liberalisierung von Abtreibungsregelungen

Das liberale Judentum blickt anders auf das ungeborene Leben als etwa die katholische Kirche: Im jüdischen Religionsgesetz gelte der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständige Person, erklären liberale Rabbiner

von Leticia Witte  11.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Palästinensertuch

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024

Wajeze

»Hüte dich, darüber zu sprechen«

Die Tora lehrt, dass man ein Gericht anerkennen muss und nach dem Urteil nicht diskutieren sollte

von Chajm Guski  06.12.2024

Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024

Hildesheimer Vortrag 2024

Für gemeinsame Werte einstehen

Der Präsident der Yeshiva University, Ari Berman, betonte die gemeinsamen Werte der jüdischen und nichtjüdischen Gemeinschaft

von Detlef David Kauschke  05.12.2024