Tasria-Mezora

Segen der eigenen Scholle

Ans Land gebunden: Bauer bei der Arbeit auf dem Feld Foto: Getty Images

Odessa und die zionistische Aufklärung, Chelm und seine amüsanten Weisen, Kischinau und die schrecklichen Pogrome, Kowno und die Dichtung, die dort entstand – all diese jüdischen Städte hatten eines gemein: Sie lagen innerhalb des sogenannten Ansiedlungsrayons, der 1791 von Zarin Katharina der Großen festgelegt wurde. Damit drängte das Russische Reich die Juden an seine westlichen Ränder und besiedelte nebenbei teilweise unbewohnte Gebiete.

Die Einschränkung der jüdischen Siedlungsfreiheit war nicht einzigartig für das Russland des 18. Jahrhunderts. Während des gesamten Exils wurde das jüdische Recht auf Land – und sogar auf das eigene Haus – auf unterschiedliche Weise eingeschränkt. Diese Tatsache verstärkte nicht nur das Gefühl der Unsicherheit und der Unbeständigkeit, sondern steht auch in direktem Zusammenhang mit einer zentralen Gruppe von Geboten in der Tora: den »landgebundenen Geboten« (Mizwot hatluyot ba’aretz).

Im Wochenabschnitt lesen wir von drei Arten von Aussatz

In Tasria-Mezora lesen wir von drei Arten von Aussatz (Zara’at): Körperaussatz (Haut oder Haare), Kleidungsaussatz und Hausaussatz. Bei allen drei Arten handelt es sich um ungewöhnliche Flecken, die unter die Aufsicht und Behandlung eines Kohens, eines Priesters, fallen. Doch nur im Zusammenhang mit dem Hausaussatz erscheint der Satz: »Wenn ihr kommt in das Land Kenaan« (3. Buch Mose 14). Das bedeutet: Die Gesetze über Körper- und Kleidungsaussatz gelten überall, aber die Gesetze über den Hausaussatz gelten ausschließlich im Land Israel – so entscheidet auch Maimonides, der Rambam (1138–1204) in seinem Werk Mischne-Tora.

Der Hausaussatz ist ein Beispiel für die landgebundenen Gebote. Es gibt nahezu 100 Gebote dieser Kategorie – eine enorme Zahl im Vergleich zu den insgesamt 613 Geboten. Der Kern dieser Gebote ist sozialer Natur: Sie betreffen einerseits die Unterstützung der Kohanim und Leviten und andererseits die Unterstützung der Armen. Das Gebot der Erstlingsfrüchte (Bikkurim) ist ein Beispiel für die Unterstützung der Priester: Der Mensch soll jedes Jahr seine ersten Ernteerträge dem Priester bringen. Das Schmitta-Jahr (Schabbatjahr) ist ein Beispiel für die Unterstützung der Armen: Alle sieben Jahre soll man das Land ruhen lassen, damit die Armen von seinem Ertrag profitieren können.

Durch die Gründung des Staates Israel vor 77 Jahren hat jeder Jude die Möglichkeit, festen Boden unter den Füßen zu spüren. Es gibt zwar Bedrohungen und Angriffe, doch die Juden des Landes sind auf sich selbst angewiesen und nicht dem Wohlwollen anderer ausgeliefert. Und genau hier liegt die Verbindung zu den landgebundenen Geboten: Nur wer ein eigenes Zuhause hat, kann zur vollen Verantwortung dafür aufgerufen werden. Der Hausaussatz weist nicht einfach auf einen Renovierungsbedarf oder Abriss hin, sondern auf ein tieferliegendes spirituelles Problem am Wohnort. Nur von jemandem, der eine tiefe Verbindung zum Ort und zum Land hat, kann man eine solche Verantwortung verlangen.

Das Volk Israel hat in seinem Land nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten

Ebendies ist der Gedanke hinter den landgebundenen Geboten: Das Volk Israel hat in seinem Land nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten – die Pflicht, eine gerechte jüdische Gesellschaft zu gestalten. Die Verantwortung des Landbewohners gilt nicht nur ihm selbst und seiner Gemeinde, sondern der gesamten Gesellschaft, in der er lebt – und auch dem Boden, auf dem er lebt. Weder in Russland noch im Jemen, weder in Spanien noch in der Türkei waren Juden so sehr mit dem Boden verbunden wie im Land Israel. Und mit dem Recht kommt, wie gesagt, die Pflicht.

Daher beginnt der Prophet Jeschajahu (Kapitel 11) in der wunderschönen Haftara zum Unabhängigkeitstag seine Beschreibung des zukünftigen Anführers Israels »aus dem Stamme Isais« nicht mit königlichem Glanz oder militärischer Stärke, sondern mit seiner sozialen Haltung: »Er wird die Geringen in Gerechtigkeit richten (…), und Gerechtigkeit wird der Gürtel seiner Hüften sein«, heißt es da. Wer über das Volk Israel herrschen will, muss sich der Verantwortung bewusst sein, die mit der Aufgabe einhergeht, eine gerechte jüdische Gesellschaft zu schaffen. Erst danach ist Platz für die wunderbaren Verheißungen, die später im Kapitel folgen: »Dann wird wohnen der Wolf mit dem Lamm, und der Tiger wird lagern neben dem Böcklein.«

Die Pogrome, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts im Ansiedlungsrayon ereigneten, machten den Juden klar, wie wichtig nationale Unabhängigkeit und Landbesitz sind, um eine gerechte jüdische Gesellschaft zu gründen. Und genau das taten Zehntausende von Auswanderern, die des Ansiedlungsrayons überdrüssig waren: Sie begründeten die zionistische Bewegung und bauten im Land Israel eine neue Gesellschaft auf, so wie der Nationaldichter Chaim Nachman Bialik (1873–1934), der erste Staatspräsident Chaim Weizmann (1874–1952) und die vierte Ministerpräsidentin Israels, Golda Meir (1898–1978).
Werden wir es schaffen, eine gerechte jüdische Gesellschaft zu gründen? Das ist eine gute Frage. Vielleicht sollten wir uns dabei von den »landgebundenen Geboten« inspirieren lassen, von denen wir diese Woche in Tasria-Mezora lesen. Viel Erfolg dem Volk Israel!

Der Autor ist Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Tasria lehrt die Gesetze für die Wöchnerin und die Dauer der Unreinheit. Bei einem männlichen Kind wird zudem festgelegt, dass es am achten Tag nach der Geburt beschnitten werden soll.
3. Buch Mose 12,1 – 13,5

Im Wochenabschnitt Mezora wird die Reinigung von Menschen beschrieben, die von Aussatz befallen sind.
3. Buch Mose 14,1 – 15,33

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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