Brit

Schlag ein!

»Siehe, Ich gebe ihm meinen Bund des Friedens. Ihm und seinen Nachkommen für alle Zeiten« (4. Buch Mose 25,12). Foto: Thinkstock

Am vergangenen Schabbat haben wir am Ende des letzten Wochenabschnitts (4. Buch Mose 25, 1–9) vom dramatischen geistigen und moralischen Verfall des jüdischen Volkes gelesen. In dieser Situation nimmt Aharons Enkel Pinchas einen Speer und tötet Simri, einen Fürsten aus dem Stamm Schimon, und die moabitische Priesterin Kosbi, während die beiden unverfroren G’ttes Namen entheiligen.

Der Talmud (Sanhedrin 82a) erklärt, dass Simri und Kosbi mit ihrem obszönen Verhalten auch Mosches Autorität infrage stellen: »Er (Simri) brachte sie (Kosbi) vor Mosche und sprach zu ihm: Sohn Amrams, ist diese verboten oder erlaubt? Und wer hat dir, wenn du sagst, sie sei verboten, erlaubt, die Tochter Jitros zu heiraten?«

Provokation Simri stellt es also so dar, als ob Mosche, obwohl er selbst mit einer Midianiterin verheiratet ist, dem Rest des Volkes Beziehungen mit Ausländern verbieten möchte. Simri will provozieren und Mosche als Heuchler darstellen – was ihm auch gelingt. Im Talmud heißt es dazu: »Da entschwand ihm (Mosche) die Halacha (die Autorität), und das ganze Volk brach in ein Weinen aus.« Mosche schafft es also offenbar nicht, in dieser Situation angemessen zu reagieren – ganz im Gegenteil: Er reagiert überhaupt nicht.

In diesem Moment springt Pinchas ein und verteidigt die Würde G’ttes und die Autorität Mosches. Seine Wut und die damit einhergehende harsche Reaktion ist verständlich, denn immerhin ist Pinchas ehrlich besorgt über die Zukunft des jüdischen Volkes, das dem geistigen, moralischen und auch strukturellen Verfall nahe zu sein scheint.

Der Midrasch (Bemidbar Rabba 21, 3–4) lobt Pinchas, dass er da, wo Mosche und die Ältesten versagen, die Verantwortung übernimmt. Für den Midrasch war Pinchas’ Töten ein Akt der Selbstverteidigung.

In den Büchern Richter und Jehoschua lesen wir, dass Pinchas wichtige Positionen innehatte. Der Rambam, Maimonides (1038–1204), schreibt in der Einleitung zu seiner Mischne Tora, dass es Pinchas war, der die mündliche Überlieferung von Mosche empfing und an Eli, den Hohepriester, weitergab.

Laut dem Talmud (Sanhedrin 82b) erlebte Pinchas sechs Wunder, die es ihm ermöglichten, die beiden Sünder zu bestrafen. Und »darauf kam er und schleuderte sie vor G’tt, indem er vor Ihm sprach: ›Herr der Welt, wegen dieser sollen 24.000 in Israel sterben?‹ (...) Worüber Rabbi Elasar sagte: Es heißt nicht, er betete, sondern er richtete. Dies lehrt, dass er mit seinem Schöpfer Gericht hielt«.

Ist die übereifrige Mordtat aber wirklich gerechtfertigt? Genau damit beschäftigt sich der heutige Wochenabschnitt – sozusagen als Fortsetzung der Geschichte.

Belohnung Auf den ersten Blick scheint es so, als werde die Tat gerechtfertigt. Statt einer Strafe erhält Pinchas zwei Belohnungen. G’tt sagt: »Siehe, Ich gebe ihm meinen Bund des Friedens. Ihm und seinen Nachkommen werde für alle Zeiten ein Bund des Priestertums sein, dafür, dass er das Recht für seinen G’tt zur Geltung gebracht und Sühne über Israels Söhne vollzogen hat« (4. Buch Mose 25, 12–13).

Ein genauerer Blick offenbart jedoch einige Ungereimtheiten. Der berühmte sefardische Bibelkommentator Abarbanel (1437–1508) fragt sich, warum Pinchas einen Bund des Friedens und einen Bund des Priestertums braucht. Hat er denn nicht schon beides, Frieden und Priestertum? Ist das deshalb wirklich eine Belohnung für ihn?

Der Neziv, Rabbi Naftali Zwi Jehuda Berlin (1816–1893), schreibt in seinem Kommentar Ha’emek Davar: »Die g’ttliche Verheißung eines Bundes des Friedens stellt eher eine Garantie des Schutzes gegen den inneren Feind dar, der im eifrigen Täter und in der plötzlichen Tat lauert, gegen die innere Demoralisierung.«

Weiter erklärt der Neziv, wie gefährlich Fanatismus ist, und dass Pinchas mit dem Attribut des Friedens gesegnet wurde, in der Hoffnung, dass er künftig nicht mehr so aufbrausend und wütend handeln würde.

Ein Blick in den Text der Tora offenbart noch eine weitere Anomalie: Der hebräische Buchstabe »Wav« im Wort »Schalom« in Vers 25,12 (als G’tt Pinchas den Bund des Friedens gibt) ist gebrochen – mit Absicht. Das ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Pinchas’ Verständnis von Frieden nicht vollständig war und G’tt es »reparieren« musste. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Weisen für die Parascha dieser Woche eine Haftara (Prophetenlesung) auswählten, in der das pflichteifrige Verhalten des Propheten Elia (Elijahu HaNavi) kritisiert wird.

Motive Für mich ist die Botschaft klar: G’tt straft Pinchas zwar nicht, da Er seine Motive für die Tat versteht. Aber Er gibt ihm den Bund des Friedens als ein klares Zeichen dafür, dass nicht Eifer, sondern Ruhe und Besonnenheit wirksame Mittel gegen die Probleme sind, die wir bewältigen müssen.

Die Herausforderungen des Judentums – damals wie heute – sind groß und zahlreich, aber Fundamentalismus oder übereifriger Extremismus sind der falsche Weg. Extreme Zeiten rechtfertigen keine extremen Maßnahmen. Wenn wir als jüdisches Volk auch im 21. Jahrhundert überleben wollen, müssen wir den Anfechtungen gewachsen sein. Und wir werden sie schließlich auch bewältigen – friedlich, besonnen und klug.

Die Diskussionen des Talmud reflektieren dieses Selbstverständnis. Sie zeigen, dass wir keine Dogmen und keine »einzig richtige Wahrheit« haben. Im Gegenteil, manchmal gibt es mehr als eine Wahrheit, und manchmal ist für G’tt mehr als nur ein Weg akzeptabel, wie uns der Talmud anhand der Streitgespräche zwischen den großen Weisen Hillel und Schammai lehrt: »Beides, diese und diese, sind die Worte des lebendigen G’ttes« (Eruwin 13b).

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.


Inhalt
Der Wochenabschnitt Pinchas berichtet von dem gleichnamigen Priester, der durch seinen Einsatz den Zorn G’ttes abwenden konnte. Dafür wird er mit dem »Bund des ewigen Priestertums« belohnt. Die kriegsfähigen Männer werden gezählt, und das Land Israel wird unter den Stämmen aufgeteilt. Mosches Leben nähert sich dem Ende. Deshalb wird Jehoschua zu seinem Nachfolger bestimmt. Am Schluss der Parascha stehen Opfervorschriften.
4. Buch Mose 25,10 – 30,1

Michael Fichmann

Essay

Halt in einer haltlosen Zeit

Wenn die Welt wankt und alte Sicherheiten zerbrechen, sind es unsere Geschichte, unsere Gebete und unsere Gemeinschaft, die uns Halt geben

von Michael Fichmann  16.10.2025

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025

Tradition

Geborgen unter den Sternen

Mit dem Bau einer Sukka machen wir uns als Juden sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Nachbarn erklären können, was uns die Laubhütte bedeutet

von Chajm Guski  06.10.2025

Sukkot

Fest des Vertrauens

Die Geschichte des Laubhüttenfestes zeigt, dass wir auf unserem ungewissen Weg Zuversicht brauchen

von Rabbinerin Yael Deusel  06.10.2025

Sarah Serebrinski

Sukkot: Freude trotz Verletzlichkeit

Viele Juden fragen sich: Ist es sicher, eine Sukka sichtbar im eigenen Vorgarten zu bauen? Doch genau darin – in der Unsicherheit – liegt die Botschaft von Sukkot

von Sarah Serebrinski  05.10.2025

7. Oktober

Ein Riss in der Schale

Wie Simchat Tora 2023 das Leben von Jüdinnen und Juden verändert hat

von Nicole Dreyfus  05.10.2025

Übergang

Alles zu jeder Zeit

Worauf es in den vier Tagen zwischen Jom Kippur und Sukkot ankommt

von Vyacheslav Dobrovych  03.10.2025

Kirche

EKD: Gaza-Krieg nicht zum Anlass für Ausgrenzung nehmen

Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs: »Offene und gewaltsame Formen des Antisemitismus, besonders in Gestalt israelbezogener Judenfeindschaft, treten deutlich zutage«

 03.10.2025