Selichot

Schlaflos in Jerusalem

Die Stadt, die niemals schläft» – zwischen Rosch Chodesch Elul und Jom Kippur macht die Altstadt von Jerusalem der Party-Metropole Tel Aviv ernsthafte Konkurrenz. Sobald es dunkel wird, strömen Zehntausende von Israelis in die Heilige Stadt. Sie genießen die kühle Nachtluft in den golden schimmernden, beleuchteten Gassen, lassen sich Geschichten aus der jüdischen Vergangenheit Jerusalems erzählen und beteiligen sich nach Mitternacht an den traditionellen Selichot-Gebeten an der Kotel.

Manche ziehen es vor, die Straßen und Synagogen auf eigene Faust zu erkunden. Andere schließen sich speziellen Selichot-Touren an, die Tradition, Musik, Geschichte und Spiritualität verbinden und die in den letzten Jahren sehr populär geworden sind – vor allem bei säkularen Israelis.

Die Selichot-Spaziergänge begannen ursprünglich als spontaner Nachtbummel zwischen den sefardischen und den orientalischen Synagogen im alten Jerusalemer Viertel Nachlaot. Heute erstrecken sich die «Nachtwanderungen der Büßer» über viele der religiösen Viertel – wie Buchara, Mea Schearim und das jüdische Viertel in der Altstadt von Jerusalem. Fast alle enden an der Kotel, wo ab Mitternacht bis drei Uhr morgens die Selichot-Gebete gelesen werden.

Guide «Ich schätze, dass im Moment 200 Selichot-Gruppen in der Jerusalemer Altstadt unterwegs sind», sagt Tourguide Uri Katzir – er ist um die 45 Jahre alt – zu seiner Gruppe. Ungefähr 30 Israelis haben sich am Donnerstagabend unter dem Davidsturm in der Nähe des Jaffa-Tors versammelt. 70 Schekel haben sie für die Selichot-Tour bezahlt. Nur einer der Teilnehmer trägt eine Kippa.

Um dem Gedränge zu entkommen, setzt sich die Gruppe erst einmal unter einen Olivenbaum außerhalb der Stadtmauer. Uri liest ein Stück aus dem «Bustan Sefaradi» des ehemaligen israelischen Präsidenten Yizhak Navon vor. In seiner Kindheit hat der Guide selbst noch gehört, wie der Schammai vor dem Morgengrauen in Nachlaot von Haus zu Haus lief, um die schlaftrunkenen Juden zum Gebet aufzuwecken. Dazu passt der Ruf, wie Navon ihn in seinen Erinnerungen wiedergibt:

«Selichot! Selichot! Du, Mordechai, stehe auf und gehe in die Synagoge, du Schuft! Dein Magen ist noch geschwollen vom Tscholent, den du gestern gegessen hast ... Chacham Sornaga, wache auf und erhebe dich wie ein Löwe, um dem Schöpfer zu dienen. Selichot! Senor Joshua: Öffne deine Augen, denn du bist nichts. Jeder ist «Hevel» (Dunst), und um jedermanns Hals liegt ein Seil. Chacham Kastel, erhebe dich. Selichot!»

Psalm Das Wort Selichot leitet sich vom Wort «Selicha» (Vergebung) ab. Der Psalmist sagt: «ki imcha haselicha» («Denn bei dir ist Vergebung»), Psalm 130,4. Die Tradition, während der zehn Tage der Teschuwa Selichot-Gebete vor der Dämmerung zu lesen, begann in der Zeit der babylonischen Geonim, etwa im achten bis zehnten Jahrhundert.

Später haben sich zwei verschiedene Bräuche herausgebildet. In aschkenasischen Gemeinden werden Selichot ab Mozaei Schabbat, dem Schabbatausgang vor Rosch Haschana, bis Jom Kippur gelesen. Nach dem sefardischen Brauch beginnen Selichot schon 40 Tage vor Jom Kippur, an Rosch Chodesch Elul. Dieser Zeitraum erinnert daran, dass Mosche nach der Episode mit dem goldenen Kalb erneut auf den Berg Sinai stieg, nachdem er das Volk aufgefordert hatte, sich in seiner Abwesenheit richtig zu verhalten. Am zehnten Tischri kam er wieder herunter – mit der Botschaft «salachti» («ich habe verziehen»).

Die 40 Tage zwischen Rosch Chodesch Elul und Jom Kippur sind also die passende Zeit für Reue und Umkehr. Eine der interessanten Tatsachen bei den Selichot-Gebeten ist, dass sie sich parallel in sefardischen und aschkenasischen Gemeinden entwickelt haben, sagt Tourguide Uri. Juden sind nicht dazu verpflichtet, sie zu sagen. Aber viele verspüren den Wunsch und ein Bedürfnis dazu.

Zusammen mit den Selichot-Gebeten erklingen auch Pijutim, religiöse Gedichte. Viele der Pijutim werden zu bekannten Melodien gesungen. In Jerusalems Straßen dominieren orientalische musikalische Einflüsse, wie bei dem bekannten Hit «Chatanu lefanecha, rachem alenu ...» («Wir haben gesündigt, erbarme dich unser ...»).

Lautsprecher Aus dem Lautsprecher des kleinen Kiosks neben dem Zionstor, wo es Zigaretten und Süßigkeiten zu kaufen gibt, säuselt die sanfte Stimme des jungen jemenitischen Sängers Meydad Tasa. Beliebte Pijutim wie «Adon Haselichot» und «El Nora Alila» sind auch als neue Cover-Versionen der israelischen Rockbands «Nikmat Hatraktor» und «Orphaned Land» auf dem Markt.

Doch die sefardische Musikdominanz in den Gassen der Altstadt wird abrupt gestoppt, als die Gruppe die steilen Stahltreppen zum Dach des Basars erklimmt. Dort ergießt sich Chava Albersteins klassische Version der Dichterin Zelda «Lekol Isch Jesh Schem» über die gewölbten Dächer von Jerusalem, und es scheint, als zögen die Klänge bis hin zur goldenen Kuppel des Felsendoms. «Jeder Mensch hat einen Namen, der ihm von Gott gegeben wurde, den ihm gaben sein Vater, seine Mutter. Jeder Mensch hat einen Namen, den ihm gaben seine Sünden, den ihm gab seine Sehnsucht.» Zeldas Gedicht ist kein Pijut und auch kein Selichot-Gebet. Aber hier, in der nächtlichen Altstadt von Jerusalem, wird es dazu.

Namen Der Mensch betet um Vergebung für eigene Sünden, aber auch für die Sünden des Volkes Israel, sagt Tourguide Uri. Selichot-Gebete haben sowohl einen privaten als auch einen kollektiven Aspekt. Manche, wie der Jerusalemer Rabbiner Rafael Levin (1924–2002), behandeln sogar die Sünden anderer wie eigene, erzählt Uri: Rafael Levin war Sohn des «Knastrabbiners» Arie Levin, der täglich die jüdischen Gefängnisinsassen in der Stadt besuchte.

Sein Sohn Rafael soll im Laufe des Monats Elul die Namen von Juden in Not gesammelt haben. Alle Namen wurden auf einen kleinen Zettel geschrieben. Dann stand der Rabbiner zwischen drei und vier Uhr morgens vor dem Toraschrein in der Synagoge und verrichtete die Selichot-Gebete mit einer Intensität, als ob es sich bei den Namen auf dem Zettel um die Namen seiner eigenen Kinder gehandelt hätte.

Das Gedränge im jüdischen Viertel wird größer, je mehr die Gruppe sich dem Tempelberg nähert. Uniformierte Soldaten, schwarz gekleidete Ultraorthodoxe, national-religiöse Frauen mit bunten Röcken und Turbanen drängeln um die Wette mit jeansgekleideten Männern und Frauen in kurzen Röcken und Sandalen. Die Dünste eines Schewarma-Imbisses mischen sich mit dem Geruch von Pizza, frisch gebackenem Brot und einem Hauch von Rauch aus einem Holzkohlegrill auf einem der Dächer.

Neben der großen goldenen Menora an der Treppe hinunter zur Klagemauer sitzt eine Gruppe von Jeschiwa-Studenten und singt religiöse Texte in mehrstimmigen Harmonien zu rhythmischem Gitarrenspiel. Am Rand der Gassen werden Amulette und rote Fäden als Schutz gegen den bösen Blick angepriesen. An einem der Stände wird nichts verkauft, sondern die Betreiber bitten um Gaben für krebskranke Kinder. Heilig und profan, Ost und West, reuige Gebete, mitreißende Melodien – alles wird zu einer bunten nächtlichen Mischung.

Beerdigung In dieser Nacht kann man sich in Menschen hineinversetzen, mit denen viele ansonsten nichts zu tun haben möchten. Eine wahre Geschichte, sagt Uri, handelt von der jüdischen Prostituierten Zohara in Jerusalem. Der Text findet sich in Romancero Sefaradi von Yitzhak Navon und wurde von den israelischen Popstars Yehoram Gaon und Yossi Banai inszeniert.

Die israelischen Touristen hängen an Uris Lippen, während er die Geschichte erzählt: Rabbi Chaim Angel Vidal, einer der größten Rabbiner in Jerusalem, rief Zohara zu sich und sagte: »Meine Tochter, Jerusalem ist eine heilige Stadt, und keine unserer Töchter verhält sich wie du. Hiermit befehle ich dir, die Stadt zu verlassen und nie wieder hierherzukommen.» Noch am selben Tag packte Zohara ihre Sachen und zog nach Jaffo, wo sie bis zu ihrem Tod 13 Jahre später lebte.

Ihre Brüder brachten ihre sterblichen Überreste für die Bestattung nach Jerusalem, jedoch die Beerdigungsgesellschaft Chewra Kadischa weigerte sich standhaft, die ehemalige Hure zu begraben – und das ausgerechnet in der Zeit der Selichot. Als Aaron Istozo, ein blinder Rabbiner, davon hörte, befahl er, die Bestattung durchzuführen, und erklärte, er werde selbst die Trauerrede halten. Nur Zoharas drei Brüder und die Chewra Kadischa waren anwesend, aber auf den Dächern und an den Fenstern standen Scharen von Juden – Männer, Frauen und Kinder – und betrachteten die kleine Gesellschaft mit Neugier.

Und so soll Istozo gesprochen haben: «Meine guten Juden, Lehrer und Rabbiner! Unser heiliger Rabbi befahl Zohara, nie im Leben nach Jerusalem zurückzukommen. Sie hat ihr Versprechen gehalten, um Jerusalem zu ehren. Warum kann Jerusalem sich nicht erbarmen, um Zohara zu ehren? Wenn es eine Mizwa ist, sie zu begraben, soll es euch zugerechnet werden. Ist es ein Verbrechen, so soll die Sünde auf mich fallen. Zohara, weil du dein Versprechen gehalten und die Heilige Stadt geehrt hast, und dank der Selichot sollen alle deine Sünden vergeben werden.» Nicht nur die Teilnehmer von Uris Tour sind berührt von dieser bekannten Geschichte.

Dämmerung Bald ist Mitternacht. Die Selichot-Gebete sind durchdrungen mit Verweisen auf «Aschmoret Haboker» (Dämmerung). Viele halten sich an den Brauch, Selichot erst kurz vor dem Morgengrauen zu sagen, auch wenn es erlaubt ist, sie bereits kurz nach Mitternacht zu sprechen. Denn die Zeit vor dem Morgengrauen gilt als «Et Razon» – eine Zeit, in der Gott am meisten empfänglich ist für Bitten um Vergebung. Während der Gebete in der Morgendämmerung herrscht eine gedämpfte Stimmung, die besser geeignet ist für Selbstprüfung, Reue und den aufrichtigen Wunsch, ein besseres Leben zu führen, als es die Party-Atmosphäre vermuten lässt, die oft während der Mitternachtsgebete zu spüren ist.

An der Westmauer herrscht trotz der Menschenmenge Stille – und ein Gefühl der gemeinsamen Kavana, der Richtung des Herzens. Vielleicht ist es die Kombination aus nächtlicher Atmosphäre, vertrauter Melodien und Worte sowie dem echten menschlichen Gefühl der Unzulänglichkeit, die dazu beiträgt, dass die Selichot bei vielen Israelis mehr authentische Frömmigkeit zum Ausdruck bringen als andere Gebete. Sie sind eine liturgische Erfahrung, die viele Besucher des nächtlichen Jerusalem nicht mehr missen möchten.

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