Mikez

Schein und Sein

Eines der sehr verwirrenden Dinge im Wochenabschnitt Mikez ist die Tatsache, dass Josef Rache an seinen Brüdern zu nehmen scheint. Er spielt mit ihnen, quält sie sogar. Er weiß genau, wer sie sind, und doch unterzieht er sie einer langen Scharade, indem er sie beschuldigt, Spione zu sein. Und später verdächtigt er Binjamin, ein Dieb zu sein. Warum tut er das?

Nachmanides, der Ramban (1194–1270), fragt, warum Josef, selbst wenn er Groll gegen seine Brüder hegt, so herzlos gegenüber seinem Vater ist? Warum schickte er Jakow keine Nachricht, dass er am Leben und wohlauf ist? Josef war der zweite Mann in Ägypten. Er hätte seinem Vater bestimmt leicht eine Art Nachricht schicken und ihm sagen können: »Ich lebe. Komm herunter und triff mich.«

Rambam: Josef versuchte, seine Träume zu verwirklichen

Der Ramban bietet einen umfassenden Ansatz zur Beantwortung dieser Frage. Er sagt, Josef sandte seinem Vater keine Nachricht, weil er versuchte, seine Träume zu verwirklichen. Josef hatte zwei Träume. Zuerst träumte er, dass die elf Brüder sich vor ihm verneigen würden.

Dann hatte er einen zweiten Traum, dass sich auch sein Vater vor ihm verneigen würde. Der Ramban schreibt, dass Josef die Erfüllung dieser Träume erleben musste. Als zehn der Brüder nach Ägypten kamen und sich vor ihm verneigten, blieb der erste Traum unerfüllt. Aus diesem Grund forderte er alle elf Brüder auf, vor ihm zu erscheinen. Als die Brüder mit Binjamin kamen und sich vor ihm verneigten, war der erste Traum vollständig erfüllt, doch der zweite noch nicht. Deshalb heckte Josef diesen Plan aus. Er wollte sich nicht rächen, sondern es ging ihm um die Erfüllung seiner Träume.

Rav Jaakov Kamenetsky (1891–1986) fragt in Emet L’Jaakov, was es für eine Mizwa sei, dafür zu sorgen, dass die Träume eines Menschen in Erfüllung gehen. Dies sei keine Rechtfertigung dafür, seine Brüder und seinen Vater zu quälen und dieses Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen zu spielen, nur um sicherzustellen, dass die Träume aus der eigenen Jugend in Erfüllung gehen.

Wie konnte Josef einen so groben Fehler machen und seine Brüder beschuldigen, Spione zu sein?

Rav Kamenetsky gibt anschließend seine eigene Erklärung für Josefs Verhalten. Er meint, dass Josef den Brüdern eine Lektion erteilen musste, nämlich, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie zu sein scheinen, und dass man falsch schlussfolgern kann. Genau das haben die Brüder nämlich getan. Sie verdächtigten ihren unschuldigen Bruder fälschlicherweise. Die Brüder wussten, dass sie keine Spione waren. Sie wussten, dass Josef ein kluger Kerl war. Wie konnte er einen so groben Fehler machen und sie beschuldigen, Spione zu sein?

Sie lernten die Lektion nicht gleich beim ersten Mal. Rav Jaakov Kamenet­sky weist darauf hin, dass sie Binjamin, als sie den Kelch in seinem Sack fanden, beschuldigten und sagten (Raschi bringt diesen überraschenden Midrasch): »Du bist ein Dieb, der Sohn einer Diebin (was sich auf die Tatsache bezieht, dass seine Mutter Rachel die Götzen von ihrem Vater Lavan stahl).« Das sagten sie, obwohl sie wussten, dass Binjamin ein Zaddik, ein rechtschaffener Mensch, war.

Obwohl Binjamin ein Zaddik war, sagten sie: »Du bist ein Dieb.« Obwohl sie wussten, dass Josef ein Zaddik war, sagten sie: »Du bist ein Rodef, hast die Absicht zu morden.«

»Ich werde euch zeigen«, sagte Josef, »dass Menschen, die voreilige Schlüsse ziehen und sich nur die vermeintlichen Beweise ansehen, manchmal ernsthafte Fehler machen.« Er musste sie diesen Prüfungen und Bedrängnissen aussetzen, damit sie endlich erkennen würden, was sie falsch gemacht hatten.

Als Josef die Worte »Ich bin Josef – lebt mein Vater noch?« aussprach, konnten die Brüder ihm nicht antworten, »denn sie fürchteten seine Anwesenheit«. Der Midrasch sagt, dass dies für sie Musar (Tadel, Verweis oder Züchtigung) war, auf den sie keine Antwort hatten. Jetzt wurde ihnen klar, dass sie 20 Jahre lang einen Fehler gemacht, ja, dass sie mit einer Lüge gelebt hatten.

Das ist die Lektion, die Josef ihnen erteilen wollte: Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen. Dies sollten auch wir beherzigen.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogen­gemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

inhalt
Der Wochenabschnitt Mikez erzählt von den Träumen des Pharaos, die niemand an seinem Hof deuten kann außer Josef. Er sagt voraus, dass nach sieben üppigen Jahren sieben Jahre der Dürre kommen werden, und empfiehlt dem Pharao, Vorräte anzulegen. Der Herrscher betraut ihn mit dieser Aufgabe. Dann heiratet Josef: Er nimmt Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters, zur Frau. Sie bringt die gemeinsamen Söhne Efraim und Menasche zur Welt. Dann kommen wegen der Dürre in Kanaan Josefs Brüder nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen.
1. Buch Mose 41,1 – 44,17

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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