Meinung

Rosch Haschana und die Bedeutung der Ehrlichkeit

Rabbiner Boris Ronis Foto: Stephan Pramme

Der Volksmund sagt oft lapidar: Neues Jahr, neues Glück.  Gemeint sind damit alle möglichen Vorsätze und Wege, die man sich gerne für ein neues Jahr vornimmt. Vorbei ist das alte Jahr, das neue beginnt.

Doch bevor es soweit ist, feiern wir zusammen mit Familie und Freunden den so erhofften Neubeginn und ersehnen uns die Erfüllung der besten und schönsten Wünsche fürs neue Jahr, mit all seinen vielversprechenden Vorsätzen und Aussichten. Ist es aber damit getan?

Alles Schlechte im neuen Jahr soll sich nun zum Guten wenden. Von allen unnötigen Lastern möge man ab jetzt keinem einzigen mehr nachgehen. Ja, überhaupt, diese Schwäche des Entbehrlichen und Hinderlichen auf unserem Lebensweg möge doch bitteschön sofort mit Beginn des neuen Jahres aufhören. So lautet der fromme Wunsch.

SCHWÄCHE Doch oft schon kurze Zeit nach Beginn des neuen Jahres verfällt man wieder in den alten Trott. Man gibt sich der Schwäche hin und sagt sich: Ach, nächstes Jahr, dann wird es bestimmt besser klappen. Im nächsten Jahr schaffe ich es, allen meinen doch so noblen Vorsätzen treu zu bleiben.

Doch warum schaffen wir es nicht, unsere Ziele auf Anhieb zu verwirklichen? Warum geben wir so schnell auf, halten nicht durch? Es lohnt sich, einmal das alte Jahr anzuschauen, das man durchlebt hat. Ein ehrlicher Rückblick gibt uns oft eine Antwort auf diese Frage.

Die Summe der Dinge, die sich angehäuft haben, die vermeintlich unerledigt sind, scheint immer größer zu werden.

Wenn man so ein Jahr Revue passieren lässt, dann stellen wir uns am besten eine Zugfahrt vor. Dieser Zug tuckert zwar nicht langsam vor sich hin, sondern rast das ganze Jahr über sehr schnell von einem Ort zum anderen. Alles scheint auf dieser Jahresreise geregelt zu sein, und wir passieren auch vieles. So rasen wir mit diesem Zug von Ziel zu Ziel, von Ort zu Ort, und der Zug scheint meist pünktlich und planmäßig zu halten.

Manchmal entsteht das Gefühl, nicht immer alles richtig erledigt zu haben auf dieser Fahrt, nicht alles zur vollsten Zufriedenheit geschafft zu haben. Manches, weiß man, hat man nicht richtig gemacht; bei anderen Dingen aber ist es auch nur das Gefühl, vielleicht nicht alles richtig erledigt zu haben. Nicht alles zur vollsten Zufriedenheit beendet oder vollendet zu haben, würde ich als »menschlich« bezeichnen. Denn Menschen machen nun mal Fehler und bringen manche Dinge nicht zu Ende.

SCHNELLZUG Und plötzlich steht man vor Rosch Haschana und stellt fest: Es ist schon wieder ein neues Jahr vergangen? Mein Zug fährt mir eindeutig zu schnell.

Die Summe der Dinge, die sich angehäuft haben, die vermeintlich unerledigt sind, scheint immer größer zu werden. Und so suchen wir manchmal verzweifelt die Möglichkeit, nicht nur die Dinge unter den Teppich kehren zu können, sondern sie auch tatsächlich zu erledigen. Doch wie kehre ich zu dem Punkt zurück, an dem der falsche Weg begonnen hat? Nichts anderes ist das Ganze eigentlich: eine Rückkehr zur Stelle der falschen Wahl.

Das Ganze kann man sich vorstellen wie der Samen, der in die Erde gepflanzt wird. Daraus soll einmal ein großer Baum werden. Dazu benötigt man aber Zeit und Geduld. Und hier spielt unsere Vorstellung immer eine gewisse Rolle mit: Manche von uns stellen sich den Baum immer etwas anders vor. Doch Fakt ist: Jeder von uns ist ein anderer Baum. Pflanzen wir eine Eiche, dann kann auch nur eine Eiche draußen entstehen. Pflanzen wir einen Apfelbaum, dann kann daraus auch nur ein Apfelbaum entstehen.

Doch eins haben diese Dinge gemeinsam: Wir müssen uns Zeit für sie nehmen und auch darauf achten, sie richtig zu behandeln, damit sie gedeihen können. Es liegt in unserer Verantwortung, wie standhaft ein solcher Baum wird, wie stark seine Wurzeln werden, und wie prächtig er aussehen wird. Gebe ich dem Baum nicht genug Wasser und stelle ihn nur in den Schatten, kann er nicht stark und groß werden.

Veränderungen bedeuten auch, verstanden zu haben, was schiefgelaufen ist.

Die Frage ist also immer: Was erwarte ich und was bin ich bereit dafür zu tun? Deshalb ist zu unserem Neujahrsfest ein wenig Ehrlichkeit uns selbst gegenüber eines der wichtigsten Elemente. Darauf baue ich alles auf, daraus entwickelt sich mein neues Jahr, meine Beziehung zu anderen Menschen zu mir selbst und zu Gott.

UMKREMPELN Ich kann nicht von mir selbst erwarten, mein Leben umzukrempeln, wenn ich nicht das vergangene Jahr konsequent und ehrlich verarbeitet habe. Änderung beutet auch, verstanden zu haben, was schiefgelaufen ist und erst dann können die Frage und der Wunsch behandelt werden, wie so eine Änderung vonstatten gehen soll.

Doch wer ist bereit, sich ehrlich seinen Fehlern zu stellen? Fehler sind nämlich immer das Ergebnis eines falsch eingeschlagenen Weges. Diese Fehler zu eliminieren und so die gewünschte Veränderung herbeizuführen, bedarf viel Eigenreflektion. Das ist der Schlüssel, um sich zu ändern. Das ist der Weg, um neuen Vorsätzen den Weg zu pflastern.

Jeder Mensch, der seine Vorsätze zwei Minuten nach Neujahr über Bord wirft, kann davon ein Liedchen singen: Die Vorsätze sind zu ambitioniert und auch zu utopisch, um sie in die Realität umzusetzen. Dabei ist der Grund des Wunsches und der innere Drang, Änderungen herbeizuführen, nur nicht ausgiebig und ehrlich genug reflektiert worden.

Und zu guter Letzt ist auch der Beginn eines Vorsatzes falsch gewählt worden: Ein Vorsatz knüpft und beginnt immer im letzten Jahr an und kann nur erfolgreich sein, wenn die Lehren des letzten Jahres verstanden worden sind. Sonst fährt der Zug immer weiter, und langsamer wird er leider nicht.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Essay

Die gestohlene Zeit

Der Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch die Möglichkeit, die Zukunft zu planen, schreibt der Autor Benjamin Balint aus Jerusalem anlässlich des Feiertags Simchat Tora

von Benjamin Balint  23.10.2024

Bereschit

Höhen und Tiefen

Sowohl Gut als auch Böse wohnen der Schöpfung inne und lehren uns, verantwortlich zu handeln

von Rabbinerin Yael Deusel  23.10.2024

Simchat Tora

Untrennbar verwoben

Können wir den Feiertag, an dem das Massaker begann, freudig begehen? Wir sollten sogar, meint der Autor

von Alfred Bodenheimer  23.10.2024

Deutschland

Sukkot in der Fußgängerzone

Wer am Sonntag durch die Bonner Fußgängerzone lief, sah auf einem zentralen Platz eine Laubhütte. Juden feiern derzeit Sukkot auch erstmals öffentlich in der Stadt - unter Polizeischutz

von Leticia Witte  20.10.2024

Laubhüte

Im Schatten Seiner Flügel

Für die jüdischen Mystiker ist die Sukka der ideale Ort, um das Urvertrauen in Gʼtt zu stärken

von Vyacheslav Dobrovych  16.10.2024

Freude

Provisorische Behausung

Drei Wände und ein Dach aus Zweigen – selbst eng gedrängt in einer zugigen Laubhütte kommt an Sukkot feierliche Stimmung auf

von Daniel Neumann  16.10.2024

Chol Hamoed

Körperlich herausfordernd

Warum das Buch so gut zu Sukkot und seinen Mizwot passt

von Rabbiner Joel Berger  16.10.2024

Talmudisches

Gericht und Reue

Was unsere Weisen über das Fasten an Jom Kippur und die Sünden zwischen den Menschen lehrten

von Vyacheslav Dobrovych  15.10.2024

Berlin

Zu Besuch in Deutschlands einzigem koscheren Hotel

Ilan Oraizers King David Garden Hotel ist ein Unikum in der Bundesrepublik

von Nina Schmedding  13.10.2024