Talmudisches

Respekt vor der Gemeinde

Jeder, der regelmäßig in der Synagoge betet, weiß, dass man am Schabbatnachmittag nicht mehr als drei Männer zur Tora aufruft und dass bei dieser Gelegenheit keine Haftara (Prophetenlesung) vorgetragen wird. Foto: picture alliance / SVEN SIMON

Zu den Aufgaben, die der Hohepriester an Jom Kippur im Heiligtum zu erfüllen hatte, gehörte die öffentliche Lesung aus einer Torarolle. Die folgende Mischna listet drei Abschnitte auf, die er vorzutragen hatte: »Er las ›Achare Mot‹ und ›Ach beasor‹, rollte danach das Buch der Tora zusammen, nahm die Torarolle an seine Brust und sprach: ›Mehr als ich euch vorgelesen habe, steht darin geschrieben.‹ Und den Abschnitt ›Uveasor‹ aus dem Buch der Musterungen trug er auswendig vor« (Joma 7,1).

Die zitierte Mischna erwähnt drei Toraabschnitte, die verschiedene Aspekte von Jom Kippur behandeln. ›Achare Mot‹ (3. Buch Mose 16, 1–34) beschreibt die Arbeit des Hohepriesters an Jom Kippur. In ›Ach beasor‹ (23, 26–32) ist vom Arbeitsverbot sowie vom Gebot des Fastens an Jom Kippur die Rede. Im Abschnitt ›Uveasor‹ (4. Buch Mose 29, 7–11) werden die Mussaf-Opfer von Jom Kippur aufgezählt.

Beim Lesen der Mischna drängt sich uns eine Frage auf: Warum wurde der letzte Abschnitt auswendig vorgetragen? Dieses Problem hat schon die Gemara beschäftigt: »Weshalb denn – man kann die Tora wiederum aufrollen und vorlesen?« (Joma 70a). Der Talmud gibt eine überraschende Antwort: »Aus Hochachtung vor der Gemeinde rolle man die Tora nicht in ihrer Gegenwart!« Worin besteht im vorliegenden Fall Achtung vor der Gemeinde? Der Kommentator Raschi erklärt, die Zuhörer sollen während des Rollens nicht schweigend warten müssen; Maimonides meint, der Gemeinde soll erspart bleiben, während des Rollens stehen zu müssen.

Der Hohepriester trägt also die letzten Verse auswendig vor, um eine nicht erforderliche Bemühung der Gemeinde zu vermeiden. Eine solche Belästigung wird in der talmudischen Literatur als »Tircha dezibura« bezeichnet. Damit der abschließende Teil seines Vortrags nicht zu der falschen Meinung führt, der dritte Abschnitt stehe gar nicht in der Tora, erklärt der Hohepriester vor der auswendigen Rezitation feierlich: »Mehr als ich euch vorgelesen habe, steht darin geschrieben.«

»Tircha dezibura« als halachisches Prinzip

»Tircha dezibura« ist ein halachisches Prinzip, das unsere religiöse Praxis nicht nur beim Aufrollen der Tora während eines Gottesdienstes bestimmt. So lesen wir im Talmud: »Rabbi Abahu Ben Zutarti sagte im Namen von Rabbi Jehuda Ben Zevida: Die Weisen hatten die Absicht, auch den Balak-Abschnitt (4. Buch Mose 22f) dem Schma-Gebet anzufügen; sie unterließen dies aber wegen Tircha dezibura« (Berachot 12b).

Zwar ist aus den Worten Bileams im Wochenabschnitt Balak eine wichtige Lehre zu entnehmen – nämlich, dass der Ewige uns beim Liegen und beim Aufstehen beschützt –, doch die Weisen haben uns erspart, den ziemlich langen Balak-Abschnitt zweimal täglich im Schma-Gebet sprechen zu müssen.

In vielen Gemeinden ist es üblich, das Abendgebet (Maariv) vor dem Beginn der Nacht zu sprechen (Schulchan Aruch, Orach Chajim 235,1). Dieser Brauch wurde wegen Tircha dezibura eingeführt. Würde man nämlich nach dem Mincha-Gebet so lange warten, bis drei mittlere Sterne erscheinen und erst dann Maariv beten, so gingen viele Beter früh nach Hause, und sie kämen wegen der Mühe bei Dunkelheit nicht wieder zurück zum Maariv-Gebet.

Jeder, der regelmäßig in der Synagoge betet, weiß, dass man am Schabbatnachmittag nicht mehr als drei Männer zur Tora aufruft und dass bei dieser Gelegenheit keine Haftara (Prophetenlesung) vorgetragen wird. Warum wurde die Halacha so festgelegt? Rabbenu Menachem Hame’iri meint in seinem Kommentar zu Megilla 21, der Grund für diese Vorschrift sei Tircha dezibura. Die Beter hätten bereits am Vormittag eine längere Toralesung sowie eine Haftara gehört und seien erschöpft; dies habe man bei der Festlegung der Vorschriften berücksichtigt.

Am Schabbat und an den Feiertagen spricht man bekanntlich für jeden, der zur Tora aufgerufen wird, das Gebet »Mi scheberach«. Gegen diesen Brauch hat Rabbiner Jakob Emden polemisiert. Wenn es nach ihm ginge, würde er diese Bitte abschaffen – wegen Tircha dezibura. Freilich hat Rabbiner Emden gewusst, dass ein beliebter Brauch nicht aufgegeben wird. Heutzutage erleben wir dieses Bittgebet keineswegs als eine Belästigung der Gemeinde – es sei denn, jemand lässt allzu viele »Mi scheberach«-Gebete sprechen.

Ki Tawo

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