Talmudisches

Rechte und linke Hand

Foto: Getty Images

»Sobald der Kohen in den Tempel eintritt, wendet er sich nach rechts. Aus welchem Grund? Weil überliefert ist, dass der Mensch sich bei allen Wendungen, die er vollführt, stets nach rechts zu wenden hat.« So heißt es im Talmud (Sota 15b).

An vielen weiteren Stellen, aber später auch im Islam, begegnet uns das Konzept, dass die rechte Seite im Alltag und in rituellen Handlungen zu bevorzugen ist. Diese zunächst ungewöhnlich anmutende Bevorzugung einer Körperhälfte findet sich bereits in der schriftlichen Tora, und zwar im Zusammenhang mit dem Tempeldienst und der Reinigung von Aussätzigen (Sewachim 24a und Jewamot 104a).

In der Halacha, dem jüdischen Recht, wurde dieses Prinzip in der Folge auf vielfältige Bereiche übertragen: So muss der Lulav oder ein »Kos schel Bracha«, der Weinbecher, den man für bestimmte Segenssprüche in die Hand nimmt, stets mit rechts gehalten werden (Berachot 51ab). Und da der rechten Seite überall eine größere Ehre eingeräumt wird, ist es nachvollziehbar, weshalb die Körperreinigung auf der Toilette dagegen mit der Linken durchgeführt werden soll (Berachot 62a).

Was ist aber der tiefere Grund für diese Hierarchisierung der Hände und Körperseiten? In der poetischen Sprache des Tanachs finden wir die rechte Hand mit Stärke und Macht verbunden. So heißt es: »Die Rechte des Ewigen ist erhaben, die Rechte des Ewigen schafft Macht« (Psalm 118, 16–17).

Unmittelbare Wirkmacht und Präsenz Gottes

Als gewöhnlich stärkere Körperseite symbolisiert die rechte Hand eine unmittelbarere Wirkmacht und Präsenz Gottes. Im bildlichen Denken der Kabbala wurden der rechten Seite deswegen auch die »höheren« Aspekte des göttlichen Wesens zugeschrieben, etwa Güte und Erbarmen, während die Linke eher für die – mitunter strafende – Gerechtigkeit des Ewigen stand. Zwar bedürfen beide Eigenschaften einander, doch hat die rechte Seite einen gewissen Vorrang.

Da Gott aber eigentlich keine Körperlichkeit zugeschrieben werden kann, ist der Gebrauch von Bezeichnungen wie »rechte Hand« eher metaphorisch zu verstehen. Daher ist auch in der menschlichen Sphäre mit »rechter Hand« nicht unbedingt die anatomische rechte Hand gemeint, sondern schlichtweg die stärkere – selbst wenn es bei Linkshändern die linke ist.

In halachischen Werken finden wir daher verwirrende Formulierungen wie: »Ein Linkshänder bindet sich die Tefillin auf seine ›Rechte‹ – die seine Linke ist« (zum Beispiel Rambam, Hilchot Tefillin 4,3). Umstritten ist allerdings, auf welchen Arm jemand Tefillin legen sollte, der zwar mit rechts schreibt, ansonsten aber alles mit links macht – oder andersherum (Schulchan Aruch, Orach Chaim 27,6).

Flexibilität in Bezug auf die Zuordnung

Eine gewisse Flexibilität in Bezug auf die Zuordnung von »rechts« und »links« ist bereits im biblischen Buch der Richter angedeutet. Dort hören wir, dass »Ehud ben Gera ein Benjaminiter war, dessen rechte Hand schwach war« (Schoftim 3,15). Im Hebräischen ist das ein Wortspiel: »Benjamin« bedeutet unter anderem »Sohn der rechten Hand«. So kündet uns der Vers also, dass Ehud, der »Sohn der Rechten«, ein Linkshänder war.

Und gerade diese Eigenschaft war es dann auch, die ihm zum Sieg über den moabitischen König Eglon verhalf. Ähnlich überraschend ist, wovon wir am Ende desselben Buches hören, nämlich dass die 700 Elitekämpfer des Stammes Benjamin, also die »Söhne des Rechtshändigen«, allesamt Linkshänder waren (20,16).

Doch obwohl sich diese Bevorzugung einer der beiden Hände durch die Tradition zieht, sehen wir, dass sie zuweilen auch ebenbürtig nebeneinander wirken. So hören wir im Traktat Chagiga 12a von einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Schulen von Hillel und Schamai in der Frage, ob zuerst der Himmel oder die Erde geschaffen wurde.
Der Talmud findet schließlich einen Kompromiss: »Beide wurden gemeinsam geschaffen, wie es heißt: ›Meine (linke) Hand war es, die die Erde gründete, und Meine Rechte spannte die Himmel aus‹ (Jeschajahu 48,13).«

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Beha’Alotcha

Damit es hell bleibt

Wie wir ein Feuer entzünden und dafür sorgen, dass es nicht wieder ausgeht

von Rabbiner Joel Berger  13.06.2025

Talmudisches

Dankbarkeit lernen

Unsere Weisen über Hakarat haTov, wie sie den Menschen als Individuum trägt und die Gemeinschaft zusammenhält

von Diana Kaplan  13.06.2025

Tanach

Schwergewichtige Neuauflage

Der Koren-Verlag versucht sich an einer altorientalistischen Kontextualisierung der Bibel, ohne seine orthodoxen Leser zu verschrecken

von Igor Mendel Itkin  13.06.2025

Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

Leisten die Deutschen genug? Eine jüdische Perspektive auf das Thema Faulheit

von Sophie Bigot Goldblum  12.06.2025

Nasso

Damit die Liebe bleibt

Die Tora lehrt, wie wir mit Herausforderungen in der Ehe umgehen sollen

von Rabbiner Avichai Apel  06.06.2025

Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

Was das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten über den Wert des Lebens verrät

von Rabbiner Avraham Radbil  30.05.2025

Schawuot

Das Geheimnis der Mizwot

Der Überlieferung nach erhielt das jüdische Volk am Wochenfest die Tora am Berg Sinai. Enthält sie 613 Gebote, oder sind es mehr? Die Gelehrten diskutieren seit Jahrhunderten darüber

von Rabbiner Dovid Gernetz  30.05.2025

Tikkun Leil Schawuot

Nacht des Lernens

Die Gabe der Tora ist eine Einladung an alle. Weibliche und queere Perspektiven können das Verständnis dabei vertiefen

von Helene Shani Braun  30.05.2025