Schoftim

Recht sprechen

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Ein Vers im Wochenabschnitt Schoftim lautet: »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du anstreben, damit du lebst und das Land erbst, das der Herr, dein G’tt, dir gibt« (5. Buch Mose 16,20). Dazu kommentiert Raschi (1040–1105): »Lege Wert darauf, ein Gericht von hoher Qualität aufzusuchen. Das Verdienst, anständige Richter zu ernennen, ist würdig, Israel am Leben zu erhalten und es in seinem Land anzusiedeln.«

Der Maharal, Rabbi Jehuda Löw von Prag (1525–1609), weist darauf hin, dass die Einrichtung eines gerechten und ehrlichen Gerichtssystems eine »Segula« (eine Formel oder ein Ritual zur Anrufung g’ttlicher Hilfe) zum Schutz des jüdischen Volkes ist. Dies folgt aus der Tatsache, dass Falschheit keinen Fortbestand hat, Wahrheit hingegen »Füße hat«. Wahrheit bleibt bestehen, Falschheit nicht.

Der Londoner Rabbiner Jehoschua Hartman führt aus: »Jeder Buchstabe des Wortes Emet – Alef, Mem, Taf – hat eine Basis, auf der er balanciert und steht, wohingegen die Buchstaben des Wortes Scheker – Schin, Kuf, Resch – keine Basis haben, auf der sie balancieren und stehen können. Das ist kein Zufall. Die hebräische Sprache und die hebräischen Buchstaben bergen große mystische Geheimnisse.«

Segula für eine sichere Zukunft

Der Maharal betont, dass die Tora hier eine Vorhersage macht: Wenn eine Gesellschaft Richter und ein auf Wahrheit und Moral basierendes Gerichtssystem hat, besitzt sie eine Segula für Langlebigkeit. Wenn also Richter und Polizisten ernannt werden und Gerechtigkeit in einer Gesellschaft herrscht, wird das Volk eine Segula für eine sichere Zukunft in seinem Land haben.

Rabbiner Moses ben Jacob aus Coucy, ein bedeutender Talmudist des 13. Jahrhunderts, schreibt in seinem Sefer Mizwot Gdolot (»Smag«, 1247): Wenn der Allmächtige den Messias bringt, werden die Nichtjuden sagen: »Wir sehen, dass Er recht hat, denn seht, was für Menschen Er sich zu seinem Volk gemacht hat – ehrliche und aufrichtige Menschen!« Doch im »Smag« heißt es auch: Wenn Klal Israel nicht ehrlich handelt, werden die Nichtjuden, wenn der Messias kommt und uns nach Eretz Israel zurückbringt, erstaunt sagen: »Seht, sind das die Menschen, die G’tt sich erwählt hat – ein Haufen Gauner?«

Ein weiterer Punkt aus der oben zitierten Passage ist hervorzuheben, in der Raschi zu den Worten »Damit ihr lebt und das Land in Besitz nehmt« Folgendes schreibt: »Die Ernennung gerechter Richter ist an sich würdig (k’dai hu), Israel am Leben zu erhalten und es in seinem Land anzusiedeln.«

In Shev Schmateta bezieht sich Rabbi Aryeh Leib Heller (1765–1805) in seiner Einleitung auf den Ausdruck »k’dai hu«. Er bemerkt, dieser Ausdruck sei mehrdeutig. K’dai (»Es ist würdig«) sei eine Untertreibung. Es entspräche der Aussage: »Es ist eine Sache, die nicht verloren gehen wird. Sicherlich ist es k’dai!«, heißt es im Shev Schmateta. »Es ist mehrfach k’dai! Es ist mehr als nur lohnend – es ist unerlässlich, ehrliche Richter zu ernennen.«

Zwei biblische Geschichten mit ähnlichem Handlungsverlauf

Rabbi Yehuda Jacobowitz aus Lakewood (USA) zitiert in seinem Werk Jismach Jehuda eine interessante Idee aus Akeidat Yitzchak von Jitzchak ben Mosche Arama (1420–1494). Dort werden zwei biblische Geschichten mit ähnlichem Handlungsverlauf, aber etwas unterschiedlichem Ausgang, miteinander verglichen: die Geschichte der Konkubine in Giba und die Geschichte im Wochenabschnitt Wajera über Lot und die Bewohner von Sodom.

Im 1. Buch Mose (19, 1–8) ist zu lesen, wie die Engel zu Lot kamen und ihn baten, sie als Gäste aufzunehmen. Lot entsprach ihrem Wunsch, doch dann klopften die Bewohner von Sodom an seine Tür und forderten Lot auf, die Gäste hinauszuschicken, damit sie sie vergewaltigen könnten. Lot war bereit, seine Töchter der Menge zu überlassen, anstatt das Wohl seiner Gäste zu gefährden. Den Rest der Geschichte kennen wir: Die Stadt Sodom wurde wegen der schrecklichen Sünden ihrer Bewohner zerstört.

Ein ähnlicher Vorfall wird im Buch Schoftim (19, 15–29) geschildert. Ein Mann reiste mit seiner Nebenfrau. Er kam in eine Stadt im Gebiet des Stammes Benjamin, konnte aber keinen Schlafplatz finden und musste auf der Straße übernachten. Ein alter Mann kam auf ihn zu und lud ihn in sein Haus ein. Die Leute des Ortes kamen zum Haus des alten Mannes, hämmerten gegen die Tür und verlangten, dass er ihnen den Reisenden überlasse, damit sie ihn vergewaltigen könnten. Der alte Mann versuchte, sie zu beschwichtigen, indem er ihnen seine Tochter anbot. Der Mob wollte die Tochter nicht. Schließlich gab der alte Mann ihnen die Nebenfrau. Und sie misshandelten sie.

Die Beschreibungen sind grausam und für uns heute kaum nachvollziehbar. Sie zählen zu den brutalsten Geschichten des Tanachs.

Geschwächt und lebensgefährlich verletzt

Am Morgen brach die Frau geschwächt und lebensgefährlich verletzt zusammen und erreichte kaum noch die Schwelle des Hauses, wo sie starb. Ihr Gefährte, tief erschüttert über das Geschehen, zerschnitt ihren Leichnam in zwölf Teile und sandte diese als grausames, unübersehbares Zeichen an alle Stämme Israels – ein Aufruf, das entsetzliche Verbrechen, das sich im Stamm Benjamin ereignet hatte, nicht unbeachtet zu lassen.

Die Geschichte geht weiter, indem Klal Israel gegen den Stamm Benjamin kämpfte und ihn beinahe auslöschte. Nur ein Überrest blieb übrig, aus dem der Stamm schließlich wiederaufgebaut wurde.

In Akeidat Yitzchak wird die Frage gestellt, warum in Sodom die gesamte Bevölkerung – Männer, Frauen und Kinder – ausgelöscht wurde, während wir bei den Menschen von Giba, obwohl sie einen hohen Preis zahlten, keine vergleichbare Strafe durch den Allmächtigen feststellen.

In Akeidat Yitzchak wird erklärt, dass in Sodom ihr unmoralisches Verhalten institutionalisiert und kodifiziert wurde. Sodom verankerte den Mangel an Chesed (Güte) im Zivilgesetzbuch: Sie erließen Gesetze, die gemein, grausam und unmoralisch waren. Die Menschen in Giba hingegen hatten Gesetze, die eine gerechte und moralische Gesellschaft forderten. Leider hielten sich die Menschen nicht an diese Gesetze, die sich die Gesellschaft selbst gegeben hatte. Sie erlagen ihren animalischen Trieben und handelten nicht rechtmäßig – doch wussten sie zumindest, dass sie gegen die offiziell festgelegten Normen ihrer Gesellschaft verstießen.

Sodom hatte unmoralische, unsoziale Gesetze; aber in Giba waren ordentliche Gesetze zumindest kodifiziert. Zwar gilt: »Menschen sind Menschen«, und sie waren keine »gesetzestreuen Bürger« – also mussten sie einen Preis zahlen –, aber es war nicht derselbe Preis wie in Sodom.

Einzug und Verbleib im Land

Rav Jacobowitz sagt, dies sei die Antwort auf die Frage, die auch in Shev Schmateta thematisiert wird: Warum verwendet der von Raschi zitierte Ausdruck »K’dai hu meenui haDajanim haKescherim« (die Ernennung anständiger Richter ist würdig)? Die Ernennung von Richtern – also die Tatsache, dass die Gesetze in den Büchern stehen – ist allein schon ein ausreichender Faktor, um dem Volk Israel den Einzug und den Verbleib ins Land zu ermöglichen. Selbst wenn Israel die Gesetze nicht immer einhält, ist die Existenz eines Gesetzgebungs- und Justizsystems, das Gesetze erlässt und Gesetzesverstöße bestraft, an sich schon ein Verdienst, das die Gesellschaft letztlich vor dem Untergang bewahren kann. Das ist immerhin zumindest ziviler als die Situation in Sodom, wo die Gesetze selbst unmoralisch und ungerecht waren.

Wenn moralische Abscheulichkeiten als »Gesetz des Landes« institutionalisiert werden, ist das ein sehr schlechtes Omen für die Zukunft. Es wirft ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, die nicht nur sündig ist, sondern Unmoral als Grundpfeiler ihrer zukünftigen Existenz legalisiert und kodifiziert – und die dadurch dramatisch untergraben wird.

Der Autor ist Gemeinderabbiner der Synagogengemeinde Konstanz.

inhalt
Im Wochenabschnitt Schoftim geht es um Rechtsprechung und Politik. Es werden Gesetze über die Verwaltung der Gemeinschaft mitgeteilt sowie Verordnungen für Richter, Könige, Priester und Propheten. Die Tora betont, dass die Kinder Israels in jeder Angelegenheit nach Gerechtigkeit streben sollen. Bevor mit Verordnungen zum Verhalten in Kriegs- und Friedenszeiten geschlossen wird, weist die Tora darauf hin, dass ein Israelit, der einen anderen ohne Absicht totgeschlagen hat, sich in einer von drei Zufluchtsstädten vor Blutrache retten kann.
5. Buch Mose 16,18 – 21,9

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