Über eine bis heute relevante Frage der synagogalen Praxis stritten einst zwei bekannte Tannaiten: »Die Rabbanan lehrten: Man öffne die Torarolle, schaue hinein, rolle sie zusammen, spreche den Segen, die Bracha, öffne die Rolle wiederum und lese – so Rabbi Meir. Rabbi Jehuda sagt, man öffne sie, schaue hinein, spreche die Bracha und lese« (Megilla 32a).
Rabbi Jehudas Ansicht ist leicht nachzuvollziehen: Bevor der Aufgerufene die Bracha über die Tora spricht, sollte er die Stelle sehen, die ihm vorgelesen wird. Die andere Prozedur ist umständlicher und bedarf einer Erläuterung: »Was ist der Grund Rabbi Meirs? – Dies nach Ulla, denn Ulla lehrte: Man habe bestimmt, dass der Vorlesende dem Übersetzer nicht helfen dürfe, damit niemand glaube, die Übersetzung stünde in der Tora. Ebenso auch hier: Damit niemand meine, die Segenssprüche stünden in der Tora.«
Vermeidung eines Irrtums
Nun fragt der Talmud, warum Rabbi Jehuda die Ansicht von Rabbi Meir nicht teilt. Die Antwort lautet: »Bezüglich der Übersetzung könnte man irren, bezüglich der Segenssprüche aber nicht.« Raschi erklärt dazu: »Alle wissen, dass die Segenssprüche nicht in der Tora stehen.«
Es wurden zwei Handlungsweisen vorgeschlagen. Der Talmud entscheidet, wie im Gottesdienst zu verfahren ist: »Rav Zera sprach im Namen von Rav Matna. Die Halacha ist: Man öffne die Torarolle, schaue hinein, spreche die Bracha und lese.« Die Gemara wundert sich über diese Formulierung: »Warum sagt er nicht einfach: Die Halacha sei wie Rabbi Jehuda? – Weil manche diesen Streit entgegengesetzt überliefern.« Es ist offensichtlich wichtig, dass kein Irrtum in dieser Angelegenheit aufkommt!
Für denjenigen, der zur Tora aufgerufen wird, dürfte damit das Vorgehen klar sein. Die weit hergeholte Befürchtung von Rabbi Meir braucht nicht berücksichtigt zu werden! Sowohl Maimonides (Hilchot Tefilla 12,5) als auch Rabbiner Joseph Karo (Schulchan Aruch, Orach Chaim 139,4) folgen Rabbi Jehuda: »Man öffnet die Torarolle, blickt auf die zu lesende Passage und sagt die Bracha.«
Erstaunlich ist allerdings eine Anmerkung der Tossafot zu unserer Talmudstelle. Dort heißt es, man soll Rabbi Meirs Befürchtung berücksichtigen und vor dem Aufsagen der Bracha die Torarolle schließen. Die Frage drängt sich sofort auf: Wie kann Tossafot der Entscheidung des Talmuds widersprechen?
Historische Erklärung
Eine historische Erklärung bringt Rabbiner David Halevi Segal in seinem Kommentar Ture Sahav: Tossafot gehe davon aus, dass Rabbi Jehudas Überzeugung (»Alle wissen, dass die Brachot nicht in der Tora stehen«) nur zu seiner Zeit gültig war. In späteren Generationen gebe es jedoch so viele Unwissende, dass man besser nach Rabbi Meirs Anweisung verfahre.
In einem Kommentar von Rabbiner Mosche Isserles, dem Rema, zum Schulchan Aruch lesen wir, beim Sprechen der ersten Bracha solle der Aufgerufene das Gesicht zur Seite (nach links) wenden, damit es nicht so aussieht, als ob er den Segensspruch aus der Tora vorlese. Und der Rema ist für aschkenasische Juden verbindlich. Wir erkennen, dass auch der Rema auf Rabbi Meirs Befürchtung Rücksicht nimmt. Nur wandelt er dessen Direktive ab: Statt die Torarolle vor der Bracha zu schließen, empfiehlt er, das Gesicht abzuwenden.
Wie der Chafetz Chajim, Rabbiner Israel Meir Hakohen Kagan, in seinem Werk Mischna Berura ausführt, haben einige Dezisoren gegen die Abwendung des Gesichts folgenden Einwand erhoben: Es entstehe dadurch der Eindruck, der Aufgerufene spreche die Bracha nicht über das, was ihm gleich vorgelesen wird. Es sei daher besser, das Gesicht nicht zur Seite zu wenden; man sollte vielmehr beim Sprechen der Bracha die Augen schließen.
Wir gelangen zu dem Schluss, dass die Meinungsverschiedenheit der Tannaiten Rabbi Meir und Rabbi Jehuda zu unterschiedlichen Handlungsweisen im Gʼttesdienst geführt hat. Egal, wie die eigene Praxis bei der Toralesung aussieht – man sollte die hier dargestellte Geschichte einer Befürchtung und ihrer Folgen kennen, um den Sinn des eigenen Brauchs zu verstehen.