Geschichte

Quellen des Humanismus

Individuelle Freiheiten, das Hinterfragen von Autoritäten und Dogmen sind feste Bestandteile der modernen Gesellschaft. Dies ist im Großen der Verdienst der Renaissance. Die Renaissance stellte das Individuum – den Menschen mit seiner Kreativität, Würde und Vernunft – in den Mittelpunkt der Gesellschaft und überwand damit viele Denkstrukturen des Mittelalters. Während das Mittelalter theozentrisch, also auf Gʼtt fokussiert, blieb, war die Renaissance humanistisch und stellte den Menschen ins Zentrum.

Dieser Text soll eine gewagte These vertiefen: dass nämlich die Entwicklungen der Renaissance ohne eine mystische Komponente – mit starkem jüdischem Einfluss – nicht möglich gewesen wären. Der Humanismus entspringt einem tieferen Gʼttesverständnis als der mittelalterliche Theozentrismus. Der scheinbare Weg »weg von Gʼtt und hin zum Menschen« war in gewisser Weise ein Schritt näher zu Gʼtt.

Tief im Mittelalter können wir an drei verschiedenen Orten – bei Vertretern der drei monotheistisch-abrahamitischen Religionen – eine ähnliche Innovation im Gʼttesbild beobachten.

Meditation und Introspektion

Im Jahr 1165 wurde der islamische Gelehrte Ibn Arabi geboren, der bis zu seinem Tod 1240 vor allem in Mekka und Damaskus wirkte. Durch tiefe Meditation und Introspektion gelangte er zu einer neuen Einsicht: Gʼtt ist die absolute Einheit hinter allem, und das Universum ist lediglich ein Abglanz seines Seins. Wenn Gʼtt die Sonne ist, dann ist alles, was existiert, wie ihre Strahlen – abhängig von der Quelle, aber nicht identisch mit ihr. Seine Schüler nannten dieses Konzept »Wahdat al-Wujud« – die Einheit des Seins.

Ein Jahrhundert später, 1260, kam der christliche Mystiker Meister Eckhart auf die Welt. Er wirkte als Dominikanermönch und Theologieprofessor unter anderem in Erfurt, Paris, Straßburg und Köln. In einer Zeit kirchlicher Machtfülle und scholastischer Systematik wagte er einen radikal neuen Blick auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gʼtt.

Durch tiefe Kontemplation und philosophisch-theologisches Denken kam er zu der Erkenntnis: Gʼtt ist nicht nur ein personales Wesen »über« der Welt, sondern das formlose, unbenennbare Ur-Eine, das allem Sein zugrunde liegt. Er sprach von einer »Gʼttesgeburt in der Seele« – einem inneren Prozess, durch den der Mensch zur gʼttlichen Wahrheit finden kann. Diese Geburt geschieht nicht im Außen, sondern im »Seelengrund«, wo Mensch und Gʼtt eins werden, ohne dass der Mensch dabei seine Individualität verliert.

Die Welt ist nicht getrennt von G’tt, sondern Ausdruck Seines inneren Wirkens.

Wenn Gʼtt ein stiller Ozean ist, dann ist das Ich eine Welle – aus demselben Wesen, ohne eigene Substanz. In dieser mystischen Einheit sah Eckhart nicht die Auflösung des Menschen, sondern seine tiefste Bestimmung.

Im ausgehenden 13. Jahrhundert entdeckte Mosche de Leon in Spanien antike Fragmente mit mystischen Inhalten, die über Jahrhunderte von jüdischen Gelehrten gesammelt worden waren und auf Rabbi Schimon bar Jochai zurückgehen sollen. Er veröffentlichte sie unter dem Namen »Sohar« (Glanz) – ein Werk, das innerhalb kürzester Zeit zum Haupttext der Kabbala wurde.

Intensives Torastudium, kontemplative Auslegung und innere Visionen

Der Sohar offenbart ein tiefes, symbolisch verschlüsseltes Gʼttesbild, das sich radikal vom rationalen Denken der mittelalterlichen Philosophie abhebt. Durch intensives Torastudium, kontemplative Auslegung und innere Visionen erschließen die Kabbalisten ein Gʼttesbild, das zugleich geheimnisvoll und dynamisch ist. Gʼtt ist nicht nur der transzendente Schöpfer, sondern auch das unendliche, unbegrenzte Ur-Sein – das En Sof (»Ohne Ende«), das allem Sein zugrunde liegt. Dieses Ur-Sein offenbart sich in zehn gʼttlichen Emanationen, den Sefirot, durch die das gʼttliche Licht in die Welt strömt – vergleichbar mit Sonnenstrahlen oder Wellen auf dem Ozean.

Die Welt ist nicht getrennt von Gʼtt, sondern Ausdruck Seines inneren Wirkens. Jede Handlung des Menschen wirkt auf die gʼttlichen Sphären zurück und kann zur Offenbarung der Einheit – dem Tikkun – beitragen. Wie bei Ibn Arabi und Meister Eckhart ist die Trennung zwischen Gʼtt und Welt letztlich eine Illusion: Das Gʼttliche ist in allem gegenwärtig.

Was dabei wie eine revolutionäre Neuheit erscheint, ist vielleicht nur eine Wiederentdeckung dessen, was in den Schriften schon angelegt war. Bereits im Text der Tora heißt es: »Ein od milvado«– »Es gibt nichts außer Ihm« (5. Buch Mose 4,35). Dieser eine Satz enthält eine spirituelle Radikalität, die oft übersehen wird. Wenn nichts außer Gʼtt existiert, dann ist alles, was ist, in irgendeiner Weise Ausdruck Seines Seins. Manche Konzepte entfalten sich erst mit der Zeit, nicht weil sie neu sind, sondern weil das menschliche Bewusstsein erst später bereit ist, sie zu erkennen.

Neues Verständnis des Monotheismus

In Spanien, Deutschland und Saudi-Arabien entstand – unabhängig voneinander – ein neues Verständnis des Monotheismus: Nicht nur ein Gʼtt im Gegensatz zu vielen Gʼttern, sondern ein Gʼtt, der das Sein selbst ist – und eine Welt, die eine Offenbarung dieser Einheit ist. In dieser Sichtweise ist der Mensch nicht nur ein von Gʼtt erschaffenes Wesen, sondern ein Ausdruck Gʼttes – und zwar der einzige Ausdruck, der fähig ist, im Innersten seiner Seele diese Einheit zu erkennen.

Im Jahr 1463 wurde Giovanni Pico della Mirandola in eine italienische Adelsfamilie geboren. Der junge Denker zeigte Interesse an Sprachen und Ideen und studierte neben Griechisch, Arabisch und Latein auch Hebräisch und Aramäisch. Durch sein Studium und seine Freundschaft mit jüdischen Gelehrten gelangte er an ein Exemplar des Sohar. Das Studium der Kabbala hatte tiefgreifenden Einfluss auf sein Denken.

Im Alter von nur 23 Jahren verfasste Pico seine berühmte »Rede über die Würde des Menschen« (Oratio de hominis dignitate) – ein Manifest der Renaissance-Philosophie. Er vertrat darin die Überzeugung, dass der Mensch kein festgelegtes Wesen sei, sondern durch freien Willen selbst zu seiner gʼttlichen Bestimmung aufsteigen könne. In der Kabbala sah er einen Weg, seinen eigenen christlichen Glauben auf tiefere Weise zu verstehen.

Der Verfasser der »Rede über die Würde des Menschen« war mit der jüdischen Mystik vertraut.

Pico wurde von der einflussreichen Medici-Familie in Florenz gefördert, ebenso wie Leonardo da Vinci. Er gewann zunehmend an Einfluss, bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1494. Eine Exhumierung im Jahr 2007 ergab, dass Pico vergiftet wurde. Einige vermuten kirchliche Kreise dahinter, da seine Ideen ein radikal neues Gʼttes- und Menschenbild – mit starken jüdisch-mystischen Einflüssen – in die Kirche brachten und von vielen als ketzerisch angesehen wurden.

Picos Vorstellung von menschlicher Freiheit und Selbstverantwortung wurde zum Fundament des Renaissance-Humanismus und inspirierte eine Vielzahl von Denkern, darunter Marsilio Ficino, Giordano Bruno, Erasmus von Rotterdam und viele mehr. Sie alle teilten Picos Überzeugung, dass Bildung, Philosophie und spirituelle Tiefe den Menschen zu seiner höchsten Bestimmung führen könnten.

Die Kabbala als spirituelle und symbolische Grundlage

Eine Renaissance ohne Giovanni Pico della Mirandola ist schwer vorstellbar – zumindest in ihrer geistigen Tiefe und ihrem humanistischen Selbstverständnis. Die Kabbala lieferte Pico eine spirituelle und symbolische Grundlage für sein radikal neues Menschenbild: Der Mensch ist nicht nur ein Geschöpf, sondern ein frei denkendes, geistiges Wesen mit Einfluss auf das gesamte System der Schöpfung.

Der Mensch des Sohar, Ibn Arabis und Meister Eckharts ist ein Wesen, das Gʼtt erkennen kann, ohne sich dabei anderen Autoritäten und Dogmen zu unterwerfen, weil er im tiefsten Punkt seines Seins eins mit dem Schöpfer ist. Ein solcher Mensch kann im Mittelpunkt stehen – nicht trotz, sondern wegen seiner Gʼttlichkeit. Er hat im Zentrum der Kultur mehr zu suchen als der vermeintliche Theozentrismus des Mittelalters, der in Wahrheit oft nur ein Zentrismus religiöser Machtstrukturen war.

Rav Kook sagte sinngemäß, dass der Verfall des Glaubens nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Tieferem sei. Der Zweifel, ja der Bruch mit einem engen oder falschen Glauben, ist oft nur eine Vorbereitung auf einen größeren, reineren Glauben. Er ist ein Zeichen dafür, dass die Seele wächst. Der Zusammenbruch eines unzureichenden Glaubenssystems schafft Raum für einen neuen, wahrhaftigeren Glauben, der an Tiefe und Echtheit gewinnt.

So könnte auch der Zusammenbruch eines auf Gʼtt zentrierten Weltbildes im Mittelalter – zugunsten des Humanis­mus der Renaissance und später des Säku­larismus – ein notwendiger Schritt ge­we­sen sein, um einem reiferen, tieferen Gʼttesbild den Weg zu bereiten.

Der Autor ist Religionslehrer der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.

Wa'etchanan

Mit ganzem Herzen

Was wir von Mosche über das Gebet erfahren können

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  08.08.2025

Talmudisches

Schwimmen lernen

Was unsere Weisen als elterliche Pflicht verstanden

von Vyacheslav Dobrovych  08.08.2025

Grundsatz

»Wähle das Leben!«

Die jüdischen Schriften und Gebote betonen das Hier und Jetzt. Woher kommt dieses Prinzip?

von Daniel Neumann  07.08.2025

Psalmen

»Vielleicht weil Du nie hier warst«

Wo nur war Gott in den Gaskammern? Menachem Rosensaft, Sohn zweier Schoa-Überlebender, nähert sich dieser radikalen Frage in 150 Gedichten

von Menachem Rosensaft  01.08.2025

Talmudisches

Mord im Tempel

Wie ein tödlicher Zwischenfall unter Priestern das Beit Hamikdasch erschütterte

von Rabbiner Avraham Radbil  01.08.2025

Paviane

Tiere sind göttliche Schöpfung

Im Nürnberger Tiergarten wurden unter viel Protest zwölf Affen getötet. Auch aus jüdischer Sicht ist der Fall kritisch

von Rabbiner Avraham Radbil  31.07.2025

Zahl der Woche

25 Stunden

Fun Facts und Wissenswertes

 31.07.2025

Dewarim

Vermächtnis und Vision

Was Mosches Abschiedsrede mit der Prophezeiung Jeschajahus verbindet

von Rabbiner Joel Berger  31.07.2025

Mouhanad Khorchide

»Die Wurzeln des Islams liegen im Judentum«

Der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster über projüdische Erzählungen im Koran und den Kampf gegen Antisemitismus als zentrales islamisches Anliegen

von Judith Kubitscheck  31.07.2025