Re'eh

Projekt Freiheit

Ketten sprengen: Die persönliche Freiheit des Einzelnen bedingt die Freiheit der Gesellschaft. Foto: Getty Images/iStockphoto

In unserem Abschnitt beschreibt Mosche die Einzelheiten des Bundes mit Gott. Dazu gehört eine lange Liste von Mizwot, die die Kinder Israels im verheißenen Land beachten sollen. Dementsprechend wird ihr Gehorsam oder Ungehorsam gegenüber den Weisungen Gottes über ihre weitere Zukunft entscheiden.

So lesen wir im 5. Buch Mose 11: »Siehe, ich lege euch heute den Segen vor und den Fluch: den Segen, wenn ihr gehorcht den Geboten des Ewigen, eures Gottes, die ich euch heute gebiete; den Fluch aber, wenn ihr nicht gehorchen werdet den Geboten des Ewigen, eures Gottes, und abweicht von dem Weg, den ich euch heute gebiete, dass ihr anderen Göttern nachwandelt, die ihr nicht kennt« (26–28). Am Ende des Buches (30, 15–19) wird diese Ansage mit Worten ähnlichen Inhalts noch einmal bestätigt.

Wahl Maimonides, der Rambam (1138–1204), stellt aufgrund dieser beiden Abschnitte fest, dass wir die Möglichkeit zur freien Wahl über unser Ergehen haben (Mischne Tora, Vorschriften für Teschuwa, 5,3).

Er zielt allerdings nur auf die persönliche Freiheit ab. Mosche dagegen hat die kollektive Entscheidung im Blick. Eine Verbindung zwischen beiden besteht darin: Wenn jeder Mensch auf Freiheit hin angelegt ist, dann geht es um den Aufbau einer entsprechenden Gesellschaft, in der die Menschen ihre persönliche Freiheit verwirklichen können.

Das 5. Buch Mose zeugt von dem ersten Versuch in der Geschichte Israels, eine freie Gesellschaft zu entwickeln. Die Vision Mosches war von rein politischen Motiven geprägt, dem Gemeinwohl verpflichtet und kein Ausdruck nationaler Überheblichkeit oder persönlichen Machtstrebens. Auch hebt er nicht darauf ab, die Kinder Israels zu loben.

Im Gegenteil: Es ist ein halsstarriges Volk. Deshalb ruft er es zur Bescheidenheit auf und ermahnt es, verantwortlich zu handeln. Er erinnert Israel an seine Erwählung durch Gott. Es ist Israels Mission, den Nationen ein Licht zu sein.

Gesellschaft Die Frage ist: Entwickeln wir eine Gesellschaft, die sich nicht – wie in Ägypten erlebt – auf Tyrannei und Willkürhandeln eines Despoten gründet? Sind wir in der Lage, uns der starken Hand Gottes zu überlassen, wie Mosche es getan hat, als er vor dem Pharao stand, um die Erlaubnis für den Auszug der Kinder Israels aus der Knechtschaft zu erwirken?

Wenn wir wirklich auf Gott vertrauen, dann reden wir nicht mehr von einem abstrakten Gott der Philosophen. Dann erzählen wir von dem Gott, der die Geschichte des Volkes durch seinen starken Arm leitet. Und das Volk antwortet ihm wie auf dem Berg Sinai: »Wir wollen tun und hören.« Und bis heute ist Er der Ewige, der Einzige, der für uns sorgt und die Verantwortung für uns trägt.

Im Gegenzug erwartet Gott von uns, die Armen und die Bedürftigen zu ernähren, die Waisen, Witwen und den Fremdling zu unterstützen und die Leviten, die keinen Anteil am Land haben, ausreichend zu versorgen. Alle sollen die Tage der Freude und der Ruhe miteinander teilen.

Beim Aufbau einer gerechten Gesellschaft, die dem Menschen Ehre und Freiheit zukommen lässt, betont Mosche, dass es seit der Erschaffung des Menschen darum geht, sich ethisch zu verhalten, zwischen Fluch und Segen, Sünde und Gehorsam zu wählen.

Ausreden Was für den Einzelnen gilt, bringt Mosche in Anschlag für das ganze Israel. Und hier lässt der erste Mann des Volkes keine Ausreden zu, wie etwa: Wir sind unterlegen und ein besiegtes Volk, unsere Mittel sind dürftig, oder gar: Mosche, deine Führungsqualitäten lassen zu wünschen übrig. Nein, entgegnet Mosche, das Geschick, seine Bestimmung liegt in der Hand des Volkes. Gott ist dessen Herrscher, aber deshalb kann es sich nicht aus der Verantwortung herausreden.

Wenn es seine ethische Treue im Bund mit Gott lebt, wird das Volk angesichts feindlich gesinnter Imperien geschützt sein. Doch wird es ungehorsam gegenüber Gott, dann helfen ihm keine militärische Macht und keine Bündnisse mit anderen Völkern.

Israel, wenn es sich als die Gemeinschaft von Gottes Kindern versteht, trägt eine kollektive Verantwortung, wie die Rabbinen die Quellen der Tora interpretieren: »Kol Israel arewim sä basä« (die Kinder Israels stehen füreinander ein).

Im Judentum glaubt man nicht an den einen großen Mann (h’adam hagadol), der es ausrichten wird. Das Schicksal des Volkes hängt vielmehr an den Taten aller, wie sie im 5. Buch Mose 29 aufgezählt werden: »Ihr steht heute alle vor dem Ewigen, eurem Gott, die Häupter eurer Stämme, eure Ältesten, eure Amtsleute, jeder Mann in Israel, eure Kinder, eure Frauen, dein Fremdling, der in deinem Lager ist, dein Holzhauer und dein Wasserschöpfer« (9–10).

Abhängigkeit Mosche weist das Volk darauf hin: Immer, wenn Israel in der Versuchung steht, mit anderen Ländern ein Bündnis einzugehen, dann muss ihm bewusst sein, dass diese Länder wiederum von anderen Mächtigen abhängig sind, durch die sie bedroht, unter Druck gesetzt oder gar vernichtet werden können. Am Ende muss klar sein: Mit Gott sind wir allein auf der sicheren Seite.

Mosche begründete damit ein politisches System, in dem Gott im Zentrum steht. In der Antike erfand der Geschichtsschreiben Flavius Josephus dafür den Namen »Theokratie«. Angemessener für Israels Regierungsform scheint allerdings der Begriff der Nomokratie zu sein: Gottes Gesetz soll herrschen, indem ganz Israel es in seinem Land praktiziert.

Schon in biblischer Zeit stellte man die Frage: Wie kann in einem Gemeinwesen die Freiheit des Einzelnen so mit der Verantwortung füreinander verbunden werden, dass alle Teile der Gesellschaft in ihren Genuss kommen? Wie reguliert man die politische Klasse, dass sie das Volk nicht ausbeuten kann – wie es die Israeliten als Sklaven in Ägypten erlebt hatten?

Das biblische Israel ist der erste Versuch in der Geschichte der Menschheit, eine freie Gesellschaft zu begründen. Die Juden waren die Pioniere in der Überzeugung, dass sie imstande sind, sich als Volk selbst zu regieren und so zu organisieren, dass alle in Freiheit und Würde miteinander leben können.

Ein Volk, das seine Freiheit Gott verdankt, sieht sich dazu aufgerufen, eine gerechte und großzügige Gesellschaft aufzubauen. Durch die Tora lehrt uns Gott, wie wir das umsetzen können. Die Entscheidung, es tatsächlich zu tun, liegt in unserer Hand.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbiner­konferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt beginnt mit den Worten, die Mosche an das Volk richtet: »Siehe, Ich lege heute vor euch Segen und Fluch!« Den Segen erhalten die Bnei Israel, wenn sie auf die Gebote Gottes hören. Der Fluch wird über sie kommen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten und sich fremden Götzen zuwenden. Bei den nachfolgenden Ritualgesetzen geht es um die Errichtung eines zentralen Heiligtums, um Schlachtopfer, die Entrichtung des Zehnten (Ma’aser) und um die Erfüllung von Gelübden (Neder). Dann folgen die Speisegesetze, und zum Schluss werden die Regeln für das Schabbatjahr beschrieben und die Feiertage Pessach, Schawuot und Sukkot sowie die damit verbundenen Vorschriften erwähnt.
5. Buch Mose 11,26 – 16,17

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