Kaschrut

Opferdienst am Mittagstisch

Weil Tiere Teil der Schöpfung sind, erfordert der Verzehr bestimmte Regeln. Foto: Stephan Pramme

Kaschrut

Opferdienst am Mittagstisch

Warum Fleischessen im Judentum eine Kulthandlung ist

von Rabbinerin Elisa Klapheck  22.08.2011 16:33 Uhr

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Bottalk ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Bottalk angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Wenn man in nichtjüdischer Gesellschaft zu erkennen gibt, dass man Jude ist, steht schnell die Frage im Raum, wie man es mit den Speisegesetzen hält. Wird man das servierte Fleischgericht auch essen? Fakt ist, dass die meisten Juden nicht im strengen Sinn koscher essen. Aber irgendwie sind sich trotzdem die meisten der Kaschrut bewusst. Wer eine offiziell jüdische Veranstaltung abhält, muss sich entscheiden: Ist nur orthodox-geschächtetes Fleisch erlaubt oder serviert man lediglich ein Kosher-Style-Dinner? Oder doch lieber gleich vegetarisch?

Schlachtopfer Die Parascha Re’eh (5. Buch Moses 11, 26 – 16,17) führt uns in die Ursprünge der Kaschrut in Bezug auf den Fleischverzehr. Der Text in der Tora deutet eine historische Verschiebung an. Es ist im zwölften Kapitel von einem bestimmten Ort die Rede, an dem ausschließlich, jedoch erst in einer fernen Zukunft, noch die Ganz- und Schlachtopfer dargeboten werden dürfen.

Mosche spricht hier zu den Israeliten in der Wüste. Sie werden kaum schon den zentralisierten Tempelkult in Jerusalem vermuten. Und doch geht es um den künftigen Tempel, wenn es heißt: »Ihr dürft nicht alles das tun, was wir heute hier tun, ein jeder, was in seinen Augen recht ist. Denn ihr seid noch nicht zu der Ruhestätte und zu dem Erbbesitz gekommen, den der Ewige, euer Gott, euch geben will« (12, 8-9).

Was hatten die Israeliten »heute hier« getan? Ursprünglich waren die Darbringung eines Opfertieres und das Fleischessen Teil ein- und desselben Rituals. Nach den Tora-Bestimmungen im Buch Wajikra (3. Buch Moses, Kapitel 17) musste alles Fleisch, das gegessen wurde, zuvor Gott dargebracht werden. Entsprechend hatten alle Stämme ihre jeweiligen lokalen Heiligtümer. Beth El oder Schilo waren solche Stätten, wo schon die Erzväter Awraham, Jitzchak und Jakow geopfert haben und auch später die Kinder Israel Opfertiere darbrachten, um danach in kultischen Mahlen Fleisch zu essen.

Wajikra erklärt unmissverständlich: »Jeder aus dem Hause Israels, der einen Ochsen oder ein Schaf oder eine Ziege im Lager oder außerhalb schlachtet und sie nicht zum Eingang des Stiftszelts gebracht hat, um sie dem Ewigen vor seinen Wohnungen als Opfer darzubringen, dem Manne sei es als Blutschuld angerechnet. Er hat Blut vergossen. Der Mann soll aus seinem Volke getilgt werden« (17, 3-4).

Dem gegenüber scheint Dewarim, das 5. Buch Moses, zum Fleischessen nach Herzenslust und ohne vorherige Darbringung geradezu zu ermuntern. Wenn du »deine Ganzopfer allein an dem Ort, den der Ewige, dein Gott, in einem deiner Stämme wählen wird, darbringst«, beteuert Mosche, »darfst du ganz nach Herzenslust in allen deinen Toren schlachten und das Fleisch essen« (12,15).

Konflikt Ohne den Konflikt beim Namen zu nennen, geht es in Dewarim um die Zentralisierung des Opferkults unter den Königen Hiskia und Josia im 8. und 7. Jahrhundert vor der Zeitrechnung. In den Königsbüchern des Tanach kann man den Kampf gegen die einstigen israelitischen Opferstätten nachverfolgen. Es ist der Kampf gegen ein ursprünglich dezentrales Stammessystem mit lokalen Priesterschaften und Opferstätten.

Die politischen Motive der beiden Könige sind hier in die Geschichte der Wüstenwanderung verwoben. Mosche hält das Volk dazu an, in Zukunft nicht mehr das zu tun, was man in der Vergangenheit getan hat: nämlich im ganzen Land, in entsprechenden Heiligtümern, den Opferkult zu betreiben. Zukünftig dürfe dies nur noch an einem einzigen Ort geschehen: dem Ort, den »Gott wählen wird«, so die durchgängige Formel im 5. Buch Moses. Gemeint war der Tempel in Jerusalem.

Die Zentralisierung hob die lokalen Heiligtümer auf und verbot den dortigen Opferdienst. Daran erinnert uns Mosches Mahnung: »Hüte dich aber, deine Ganzopfer an jedem Orte darzubringen, den du erblickst, sondern nur an dem Orte, den der Ewige, dein Gott, in einem deiner Stämme wählen wird. Dort sollst du deine Ganzopfer darbringen, dort sollst du alles tun, was ich dir befehle« (5. Buch Moses 12,14).

Vorschriften Nachdem sich der zentrale Tempel durchgesetzt hatte, konnte von der außerhalb Jerusalems lebenden Bevölkerung jedoch nicht erwartet werden, für jede Mahlzeit, bei der es Fleisch zu essen gab, das Tier zuvor in Jerusalem darzubringen. Entsprechend spaltete sich der Opferkult: Auf der einen Seite stand das repräsentative Opfer im Tempel in Jerusalem, auf der anderen der private Fleischverzehr »nach Herzenslust«. Allerdings mussten spezielle rituelle Vorschriften beachtet werden, um nunmehr auch im häuslichen Bereich den Opferkult fortzusetzen: »Nur das Blut dürft ihr nicht essen. Auf die Erde müsst ihr es auslaufen lassen wie Wasser« (12,17).

In dieser Aufspaltung liegt einer der Ursprünge der Kaschrut hinsichtlich des Essens von Fleisch und ein Baustein jüdischer Identität. Beide Opferkulte – sowohl in Wajikra als auch in Dewarim – antworten auf eine existenzielle Ambivalenz. Beide reagieren auf das Unbehagen, zum Überleben Hand an die Schöpfung zu legen und sogar zu töten. Beide erkennen an, dass alles in der Schöpfung von Gott ist und – wenn es von den Menschen benutzt wird – Ihm zurückgegeben werden muss.

Essen ist darum im Judentum immer auch Kult – einer, der zugleich eine ethische Weltanschauung enthält, die sich in der Tora in den religiösen Anlässen, den Festen und Feiern ausdrückte, bei denen geopfert und Fleisch gegessen wurde.

So archaisch die einstigen Bestimmungen auch anmuten, fühlt sich doch (fast) jeder Jude in irgendeiner Weise an sie gebunden. Möglicherweise liegt dies – durchaus auch unbewusst – gerade an ebendieser ethischen Sicht auf die Schöpfung. Und möglicherweise ist sie es, von der sich auch Nichtjuden unbewusst herausgefordert fühlen, wenn sie wissen wollen, ob man sich an die Speisegesetze hält – dies gerade heute, da ein ökologisches Bewusstsein auch ein neues Verhältnis zur Schöpfung und ihren Lebensmitteln verlangt.

Die Autorin ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.

Paraschat Re’eh
Der Wochenabschnitt beginnt mit den eindrucksvollen Worten, die Mosche an das Volk richtet: »Siehe, ich lege heute vor euch Segen und Fluch!« Den Segen erhalten die Bnei Israel, wenn sie auf die Gebote Gottes hören. Der Fluch wird über sie kommen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten und sich fremden Götzen zuwenden. Bei den nachfolgenden Ritualgesetzen geht es unter anderem um die Errichtung eines zentralen Heiligtums, »an dem Ort, den der Ewige, dein Gott, erwählen wird«. Es geht um Schlachtopfer, die Entrichtung des Zehnten (Ma’aser) und um die Erfüllung von Gelübden (Neder). Dann folgen die Speisegesetze mit der Erlaubnis, Fleisch zu essen, das von koscheren Tieren stammt, aber der Verzehr von Blut ist verboten. Zum Schluss werden die Regeln für das Schabbatjahr beschrieben und die Feiertage Pessach, Schawuot und Laubhüttenfest sowie die damit verbundenen Vorschriften erwähnt.
5. Buch Moses 11,26 – 16,17

Talmudisches

Positiv auf andere schauen

Was unsere Weisen über den Schutz vor bösem Gerede und die Kraft positiver Gedanken lehren

von Diana Kaplan  21.08.2025

Naturphänomene

Entzauberung des Gewitters

Blitz und Donnergrollen wurden lange als Zorn der Götter gedeutet. Doch die Tora beendete diesen Mythos

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  21.08.2025

Fulda

Vor 80 Jahren - Schuldbekenntnis der Bischöfe nach dem Krieg

Sie stand im Zenit ihres Ansehens. Nach Kriegsende galt die katholische Kirche in Deutschland als moralische Macht. Vor 80 Jahren formulierten die Bischöfe ein Schuldbekenntnis, das Raum für Interpretationen ließ

von Christoph Arens  18.08.2025

Ekew

Nach dem Essen

Wie uns das Tischgebet lehrt, bewusster und hoffnungsvoller durchs Leben zu gehen

von Avi Frenkel  15.08.2025

Talmudisches

Granatapfel

Was unsere Weisen über das Sinnbild der Fülle lehren

von Chajm Guski  15.08.2025

Geschichte

Quellen des Humanismus

Wie das Gʼttesbild der jüdischen Mystik die Renaissance beeinflusste

von Vyacheslav Dobrovych  14.08.2025

Wa'etchanan

Mit ganzem Herzen

Was wir von Mosche über das Gebet erfahren können

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  08.08.2025

Talmudisches

Schwimmen lernen

Was unsere Weisen als elterliche Pflicht verstanden

von Vyacheslav Dobrovych  08.08.2025

Grundsatz

»Wähle das Leben!«

Die jüdischen Schriften und Gebote betonen das Hier und Jetzt. Woher kommt dieses Prinzip?

von Daniel Neumann  07.08.2025