Wajera

Offene Türen

Nicht nur einen Spalt weit: Wir sollen unsere Türen weit öffnen und alle Gäste aufnehmen, auch wenn sie anders sind als wir selbst. Foto: Getty Images

Awraham und Sara waren überaus gastfreundlich. Ihr Haus hatte Eingänge an allen vier Seiten, damit die Gäste keinen Umweg gehen mussten. Als ihr Zelt in der Wüste stand, bewirteten Awraham und Sara ihre Gäste mit Milch, Fleisch und Wein. Auch an geistiger Nahrung sparten sie nicht: Sie sprachen mit den Menschen, erklärten ihnen, dass die Welt nicht von selbst entstanden ist, sondern dass es einen Schöpfer und Herrn gibt, der alles lenkt. Wenn die Reisenden Awraham für Unterkunft und Essen bezahlen wollten, lehnte er ab und sagte: »Dankt Gʼtt, der dies alles erschaffen hat.«

Selbst als Awraham sich sehr schlecht fühlte, im Alter von 99 Jahren, nachdem Gʼtt ihm und seinem Haus die Beschneidung befohlen hatte, lag er nicht den ganzen Tag im Bett und berief sich auf seine starken Schmerzen, sondern empfing weiterhin Gäste. Dieses Bestreben, Gutes zu tun, gefiel dem Allmächtigen so sehr, dass er ihn dafür belohnte, indem er drei Engel zu seinem Haus schickte. Awraham sprach zu den Reisenden: »Geht bitte nicht vorbei. Man wird euch ein wenig Wasser bringen, wascht eure Füße und ruht euch unter dem Baum aus. Und ich werde euch ein Stück Brot holen, damit ihr euer Herz stärkt, und dann könnt ihr weitergehen, da ihr an eurem Knecht vorbeigekommen seid« (1. Buch Mose 18, 3–5).

In den Städten Sodom, Amora, Adma, Zwoim und Bela zeigte sich das komplette Gegenteil zur Barmherzigkeit Awrahams und seines Hauses. In jenen Städten gab es Gesetze, die es verboten, Gäste aufzunehmen. Das heißt, in diesen Städten durfte man Fremden weder Essen noch Trinken geben und schon gar nicht eine Unterkunft anbieten, wenn sie keine Aufenthaltserlaubnis hatten. Der Allmächtige offenbarte unserem Erzvater Awraham seinen Plan, Sodom und alle benachbarten Städte zu zerstören, weil ihre Taten in Seinen Augen keinen guten Platz fanden.

Awraham bat den Allmächtigen, die Einwohner Sodoms am Leben zu lassen

Awraham wich merkwürdigerweise keinen Schritt von seinem positiven Menschenbild ab und bat den Allmächtigen, die Einwohner dieser Städte am Leben zu lassen. Er argumentierte: Vielleicht gibt es in diesen Städten wenigstens 50 gerechte Menschen, oder zumindest zehn? Doch der Allmächtige antwortete ihm, es gebe dort nicht einmal zehn.

Awrahams Barmherzigkeit war überwältigend. In Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter, lesen wir, dass Jossi ben Jocha­nan aus Jerusalem sagte: »Das Haus eines Menschen soll offen sein für alle, die es wünschen, und die Armen sollen bei dir zu Gast sein« (1,5). In einer anderen Mischna des Traktats Awot steht, dass man so viele weise Gäste wie möglich empfangen solle, um von ihnen zu lernen (1,4). Was heißt das? Was ist mit der eigenen Privatsphäre, dem Komfort? Oder vielleicht ist man gerade beschäftigt und gar nicht daran interessiert, Gäste zu empfangen? Und warum ist es überhaupt so wichtig, Gäste willkommen zu heißen?

Wir können aus den Lehren der Mischna einfache Weisheiten für unser Leben ziehen. Demnach steht in diesem Abschnitt die Gastfreundschaft an erster Stelle. Es soll aufgezeigt werden, wie wichtig es ist, offen zu sein. Gastfreundschaft bereichert uns, und wir sollen erkennen, dass jede Wahrheit, die in der Welt existiert, den Menschen bereichern kann, wenn er dafür offen ist.

Offenheit bedeutet, dass wir die Wahrheit suchen und lernen, danach zu streben

Offenheit bedeutet eben nicht, dass wir auf unsere Prinzipien oder Wünsche verzichten, sondern dass wir die Wahrheit suchen und danach streben, durch Offenheit zu lernen. Der wahre Suchende ist derjenige, der versteht, dass das Erreichen seines Ziels davon abhängt, bereit zu sein, jede Wahrheit aufzunehmen, und nicht davon, sich in eigenen Überzeugungen oder ideologischer Engstirnigkeit zu verschließen. Diese Offenheit bezieht sich nicht nur auf Weisheit und Wissen, sondern auch auf zwischenmenschliche Beziehungen und das Umfeld, in dem man lebt. Die Metapher »Das Haus ist weit geöffnet« symbolisiert auch die Bereitschaft, den anderen anzunehmen, so wie er ist – Gäste aufzunehmen und Teil einer Gemeinschaft zu sein, statt isoliert von der Außenwelt zu leben.

Unsere Parascha endet mit der Beschreibung der zehnten Prüfung Awrahams: »Gʼtt prüft den Gerechten, doch den Frevler und den, der Gewalt liebt, hasst seine Seele« (Tehillim 11,5).

Das bedeutet, dass Gʼtt denjenigen Prüfungen schickt, denen er bereits die Kraft gegeben hat, sie zu bestehen. Der Töpfer, der dem Käufer Tongefäße zeigt, klopft mit den Fingern auf die stärksten Gefäße und sagt: »Schau, es entstehen keine Risse.« Genauso macht es der Garnverkäufer, wenn er die Stärke seines Produkts demonstriert.

Rav Yitzchak Silber (1917–2004) erklärt in seinem Buch Gespräche über die Tora, dass er sein ganzes Leben lang diese Theorie untersucht hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass der Mensch immer eine Wahl hat, selbst in den schwierigsten Momenten. Rav Silber schreibt: »Aus meiner Lebenserfahrung weiß ich, dass es keinen Fall gab, in dem Gott eine Prüfung sandte, ohne dem Menschen die notwendige geistige Kraft zu geben, sie zu bestehen. Kein Mensch kann sagen: ›Ich war gezwungen zu stehlen oder zu töten‹, denn es gibt immer eine Wahl. Wüsste er mit Sicherheit, dass er dafür sein ganzes Leben lang eine konkrete Summe, zum Beispiel 30.000 Dollar, zurückzahlen müsste, hätte er es unterlassen.«

An dieser Stelle mag man sich fragen, warum Prüfungen notwendig sind. Eine Erklärung wäre, dass sie den Menschen ein Beispiel für richtiges Verhalten in bestimmten Situationen geben sollen. Awraham hat zehn Prüfungen bestanden, und die schwerste war die zehnte. Gʼtt befiehlt ihm, dem barmherzigsten Menschen: »Nimm deinen Sohn, deinen einzigen Sohn, den du liebst, Jizchak, und geh ins Land Morija und bringe ihn dort als Opfer dar« (1. Buch Mose 22,2). Und Awraham zögert nicht, sondern macht sich auf den Weg.

Auch diese Prüfung, die so schwer für ihn war, bestand er. Er zeigte, dass er voll und ganz auf Gʼtt vertraute. Auch wir scheinen heutzutage nicht immer den Sinn hinter all den Geboten zu erkennen, doch an dieser Begebenheit erkennen wir: Auch wenn wir Menschen manchmal den Sinn nicht verstehen, so ist es doch das Beste für uns, den Willen des Schöpfers zu erfüllen.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajera erzählt davon, wie Awraham Besuch von drei g’ttlichen Boten bekommt. Sie teilen ihm mit, dass Sara einen Sohn zur Welt bringen wird. Awraham versucht, den Ewigen von seinem Plan abzubringen, die Städte Sodom und Amora zu zerstören. Lot und seine beiden Töchter entgehen der Zerstörung, seine Frau jedoch erstarrt zu einer Salzsäule. Awimelech, der König von Gerar, nimmt Sara zur Frau, nachdem Awraham behauptet hat, sie sei seine Schwester. Dem alten Ehepaar Awraham und Sara wird ein Sohn geboren: Jizchak. Hagar und ihr Sohn Jischmael werden fortgeschickt. Am Ende der Parascha prüft der Ewige Awraham: Er befiehlt ihm, Jizchak zu opfern.
1. Buch Mose 18,1 – 22,24

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