Ethik

Notlügen erlaubt

Wenn die Lüge einen Menschen vor physischer Gefahr retten kann, ist sie zulässig. Foto: Thinkstock

Von klein an wird uns allen beigebracht, dass man nicht lügen darf. Wenn man erwachsen wird, merkt man jedoch irgendwann, dass sich bei Weitem nicht alle an diese Tugend halten. Jeder erkennt auch, wie schwer es ist, immer nur die nackte Wahrheit zu sagen. Ist die Wahrheit überhaupt immer hilfreich, oder ist es vielleicht besser, sich gelegentlich eine kleine Lüge zu erlauben, um ein größeres Ziel damit zu erreichen?

Wie steht das Judentum zu dieser Frage – verpflichtet uns die Tora, immer nur die Wahrheit zu sagen, wenn es heißt: »Von Lügenworten halte dich fern« (1. Buch Mose 23,7)? Wieso sagt sie dann nicht einfach: »Du sollst nicht lügen«? Überdies sehen wir einige Beispiele in der Tora und im Talmud, wo unsere Protagonisten nicht die ganze Wahrheit sagen.

Es ist selbstverständlich, dass die Tora und unsere Weisen uns lehren, keine Lügner zu sein. So vergleicht zum Beispiel Rabbi Eliazar im Traktat Sanhedrin 92a jemanden, der auch nur ein Wort absichtlich verfälscht, mit einem Götzendiener. Im Traktat Sota 42a sagt Rabbi Jermija Ben Abba, dass vier Arten von Menschen von der G’ttlichkeit nicht empfangen werden: die Spötter, die Schmeichler, die Lügner und die Verleumder. Und in den Pirkej Awot 1,18 sagt Rabbi Schimon Ben Gamliel, dass die Welt auf drei Dingen beruht: auf der Wahrheit, auf dem Recht und auf dem Frieden. Also ist die Wahrheit essenziell für uns.

häuslicher frieden Jedoch gibt es einige Ausnahmen, in denen man nicht die ganze Wahrheit sagen muss. Unsere Weisen nennen uns fünf Fälle, in welchen wir die Wahrheit etwas verdrehen können.

Erstens: Lügen um des Friedens willen und/oder um die Gefühle anderer Menschen nicht zu verletzen. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Lehre aus der Schule des Rabbi Jischmaels, die im Traktat Jewamot 65b dargeboten wird. Dort steht, dass der häusliche Frieden so wichtig ist, dass selbst der Allmächtige bereit war, nicht die ganze Wahrheit zu sagen, um den Frieden zwischen Mann und Frau zu wahren.

Gemeint ist die Stelle im 1. Buch Mose 13. Dort steht, dass Sara, als sie hörte, dass sie einen Sohn bekommen soll, sagte, sie tauge nicht mehr zum Kinderkriegen, und auch ihr Mann sei schon alt. Daraufhin erschien G’tt Awraham und zürnte darüber, dass Sara an den Eigenschaften G’ttes zweifelte, indem sie sagte, sie könne keine Kinder mehr bekommen. Dass sie auch an Awrahams Fähigkeiten zweifelte, hat G’tt verschwiegen, damit Awraham nicht auf Sara zornig würde.

Gefahr Zweitens: Lügen in einer Situation, in der die Wahrheit einen in physische Gefahr bringen kann. Das lernen wir ebenfalls von unserem Vorvater Awraham, aber auch von seinem Sohn Jizchak. Beide haben ihre Ehefrauen im 1. Buch Mose 12 und 1. Buch Mose 26 als ihre Schwestern ausgegeben. Denn da ihre Frauen sich durch außerordentliche Schönheit auszeichneten, hatten sie Angst, dass die Könige an ihnen Gefallen finden und sie selbst töten würden.

Drittens: Lügen der Bescheidenheit wegen, oder um nicht arrogant zu erscheinen. So steht in Bawa Mezia 23b, dass unsere Weisen bei drei Gelegenheiten von der Wahrheit abzuweichen pflegten: bei Traktaten, beim Bette und bei der Gastfreundschaft. »Bei Traktaten« heißt, dass man sogar, wenn man einen Traktat gelernt hat und beherrscht, aus Bescheidenheit sagen darf, man habe diesen Traktat nie gelernt.

Viertens: Man muss nicht die Wahrheit sagen, wenn es um private, vertraute oder intime Angelegenheiten geht. Das ist in der oben genannten Quelle mit »beim Bette« gemeint – das heißt, dass man keine intimen Geheimnisse preisgeben muss.

Fünftens: Lügen, um sein Eigentum vor Räubern zu schützen. So sagt der Talmud im Traktat Awoda Zara, dass man Bösewichtern ein anderes Reiseziel angeben darf, als man in Wirklichkeit ansteuert. Das hat auch unser dritter Urvater, Jakow, getan. Er sagte Esaw, er wolle nach Seir gehen, tatsächlich ging er aber nach Sukkot. Im Talmud wird auch eine Geschichte von den Schülern des Rabbi Akiwa erzählt, die denselben Trick anwandten.

Betrug Doch wer wird dann aus jüdischer Sicht überhaupt als Lügner bezeichnet? Dies verrät uns Rabejnu Jona in seinem klassischen Werk Schaarej Teschuwa 3,178: Es sind Menschen, die bei ihren Geschäften betrügen und anderen damit finanzielle Verluste bereiten. Als Lügner gelten auch Menschen, die das Vertrauen anderer gewinnen, um sie dann zu betrügen und auszunutzen; ferner Menschen, die durch Lügen einen anderen davon abbringen, einen Gewinn zu erzielen, der dann später ihnen selbst zufällt.

Außerdem trifft der Begriff auf Menschen zu, die eine Geschichte nur um des Lügens willen erfinden – und auf solche, die anderen versprechen, ihnen etwas zu geben, während sie es in Wirklichkeit gar nicht beabsichtigen.

Rabejnu Jona bezeichnet zusätzlich Menschen als Lügner, die zwar vorhaben, ihr Versprechen einzuhalten, sich aber nicht darum bemühen – und zudem diejenigen, die behaupten, sie hätten jemand anderem etwas Gutes getan oder einen Gefallen erwiesen, während sie nichts dergleichen getan haben. Als Lügner gelten auch Menschen, die sich selbst für vorteilhafte Eigenschaften loben, die sie nicht besitzen. Und schließlich fallen Menschen, die bestimmte Details abändern, wenn sie etwas erzählen, in die Kategorie der Lügner.

Es ist auch wichtig, zu bemerken, dass im Traktat Sukka 46b steht, man dürfe einem Kind niemals etwas versprechen, ohne es ihm hinterher auch zu geben, weil man das Kind dadurch zum Lügen erzieht. Also sehen wir, dass die Wahrheit zwar nicht absolut ist, man jedoch immer versuchen muss, sich von der Lüge fernzuhalten. Unwahrheiten dürfen nur in absoluten Ausnahmefällen gesagt werden.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.

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