Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

»Jeder legte sein Pessachlamm in sein Fell, warf es hinter sich über die Schulter und trug es auf diese Weise nach Hause« (Talmud Pessachim 65b). Foto: Getty Images

In unserem Wochenabschnitt lesen wir, wie Jehuda in Ägypten Josef um die Freilassung Benjamins bittet und sich selbst stattdessen als Sklave des ägyptischen Herrschers anbietet. Als Josef sieht, wie die Brüder zusammenhalten, gibt er sich zu erkennen. Josef tröstet die von Scham und Reue überwältigten Männer und lässt sie wissen, dass alles aus gutem Grund so kam, wie es sollte.

Die Brüder eilen mit den Neuigkeiten nach Kanaan zurück. Nach der durch Josef abgewandten Hungersnot gibt der Pharao der Familie Jakows das fruchtbare Land Goschen, wo sie sich niederlassen. Den Kindern Israels geht es gut in ihrem ägyptischen Exil, »sie erwarben dort Grundbesitz, waren fruchtbar und vermehrten sich stark«, lesen wir in der Tora (1. Buch Mose 47,27).

Das Volk Israel siedelt sich also zum ersten Mal in einem ihm fremden Land an. Die erste Diaspora beginnt mit dem Niederlassen in Ägypten. Der Midrasch Rabba (56,9) liefert uns einen Verweis auf vier Exile: nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels das Exil in Babylon, dann das Exil im Reich der Archimäden (Meder), gefolgt von dem im hellenistischen Griechenland und schließlich dem in Rom, das laut unseren Schriften mit Edom identifiziert wird.

Warum fehlt in der Aufzählung des Midraschs das ägyptische Exil?

Doch warum fehlt in der Aufzählung des Midraschs das ägyptische Exil? Der Arizal, Rabbiner Isaak Luria Ashkenazi (1534–1572), beantwortet diese Frage mit einem Verweis auf den Anfang des 2. Buches Mose: »Dies sind die Namen der Söhne Israels, die mit Jakow nach Ägypten zogen (habaim), jeder mit seinem Haus« (1,1).

Der Arizal analysiert das Wort »habaim«. Es besteht aus einem Artikel, also dem Buchstaben »he«, einem »beit«, einem »alef«, einem »jud« und einem »mem«. Das Wort enthält aus Sicht des Arizal also Babylonien (»beit«), Edom/Rom (»alef«), Jawan/Griechenland (»jud«) und Madai, das Archimädenreich (»mem«).

Doch wofür steht das »he«? Generell verleiht der Artikel einem Wort seine endgültige Identität. Und so steht das »he« in diesem Fall für Ägypten, das als die Wurzel der vier Reiche angesehen wird. Ägypten wird also nicht mitgezählt, da es als Prototyp des Konzepts der Diaspora alle darauffolgenden Reiche in sich vereint. Spätere Kommentatoren stimmen dem Arizal darin zu, dass Ägypten gerade deshalb nicht zu den vier »Mächten« gezählt wird, weil es der »Vater aller Zerstreuungen« ist, der Inbegriff dieses Konzeptes.

Wie gedenken wir dessen, wie wir nach Ägypten kamen?

Wir lesen im Talmud (Pessachim 65b): »Jeder legte sein Pessachlamm in sein Fell, warf es hinter sich über die Schulter und trug es auf diese Weise nach Hause. Rav Ilisch sagte: Sie trugen es nach Hause, wie arabische Händler es tun (taja’ut).«

Zu dieser Stelle kommentiert Raschi (1040–1105): »so wie Jischmaeliten/Araber«. Der New Yorker Rabbiner Daniel Glattstein argumentiert: »Das Letzte, was man am Pessachabend machen wollen würde, um der besonderen Ereignisse von Pessach zu gedenken, ist, arabische Händler aus der damaligen Zeit nachzuahmen!«

Der galizische Rabbiner Schlomo Kluger (1785–1869) klärt uns auf: Am Jahrestag des Auszugs aus Ägypten gedenken wir vieler Dinge wie zum Beispiel der Plagen, der Wunder und des Auszugs. Aber wie gedenken wir dessen, wie wir nach Ägypten kamen?

Die Antwort liegt im Verkauf von Josef an die Jischmaeliten, die ihn dann nach Ägypten weiterverkauften und so den ersten Impuls für die Pessachgeschichte und die damit einhergehende Entstehung des jüdischen Volkes lieferten. So repräsentiert genau diese Tradition, das Pessachlamm im jischmaelitischen Stil über die Schulter zu schwingen, unsere Erinnerung an den »Verkauf nach Ägypten«.

Jischmael ist ein Sohn Awrahams und Hagars, einer ägyptischen Magd, die die Tochter des Pharaos war

Doch was hat dies mit Jischmael zu tun? Schauen wir uns seine Identität genauer an: Er ist ein Sohn Awrahams und Hagars, einer ägyptischen Magd, die die Tochter des Pharaos war. Jischmael, der Enkel des Pharaos, sucht sich auf Rat seiner Mutter eine ägyptische Frau.

Rabbiner Daniel Glatstein versucht das Pessachfest und Jischmael miteinander zu verbinden. Auf der einen Seite steht der alljährliche Auszug aus Ägypten an Pessach und auf der anderen Seite die Galut Jischmael, das Exil inmitten von Jischmael. Das heißt, ein zahlenmäßig kleines Volk lebt umgeben von einer Mehrheit, die von Awraham, demselben Urvater, abstammt. Diese Realität wird heute sowohl in den sozialen, politischen und religiösen Herausforderungen der Juden weltweit sichtbar als auch geopolitisch in Israel und seiner Umgebung. Jischmael, der Bruder Jizchaks, trägt einerseits das abrahamitische G’ttesverständnis weiter, aber andererseits auch die Seele Ägyptens.
Wie sollen wir Juden mit der heutigen Manifestation dieses uralten Konfliktes umgehen?

Was auch immer passiert: Jede Epoche gibt uns Gelegenheit, für die jüdischen Werte und Prinzipien einzustehen, die uns unsere Vorväter überliefert haben. Mögen wir stets, aber vor allem in dieser Zeit, den Blick auf unseren Ursprung und für unsere jüdische Aufgabe bewahren, um auch heutige Krisen erfolgreich zu bewältigen.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajigasch erzählt davon, wie Jehuda darum bittet, anstelle seines jüngsten Bruders Benjamin in die Knechtschaft zu gehen. Später gibt sich Josef seinen Brüdern zu erkennen und versöhnt sich mit ihnen. Der Pharao lädt Josefs Familie ein, nach Ägypten zu kommen, um »vom Fett des Landes zu zehren«. Jakow erfährt, dass sein Sohn noch lebt, und zieht nach Ägypten. Der Pharao trifft Jakow und gestattet Josefs Familie, sich in Goschen niederzulassen. Josef vergrößert die Macht des Pharaos, indem er die Bevölkerung Ägyptens während der Hungersnot mit Korn versorgt.
1. Buch Mose 44,18 – 47,27

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025