Feiertag

Mut zur Ungewissheit

Zu den geplanten Highlights des Jubiläumsjahrs zählt ein bundesweites XXL-Laubhüttenfest. (Symbolfoto) Foto: Gesche-M. Cordes

Was genau ist eine Laubhütte? Wofür steht sie? Die Frage ist für die Mizwa selbst von wesentlicher Bedeutung. In der Tora heißt es: »Sieben Tage sollt ihr in Hütten wohnen. Alle Einheimischen in Israel sollen in Hütten wohnen, damit eure kommenden Generationen wissen, dass Ich die Israeliten in Hütten wohnen ließ, als da Ich sie aus Ägypten herausführte. Ich bin der Herr, euer Gott« (3. Buch Mose 23, 42–43).

Mit anderen Worten, Wissen – reflektieren, verstehen, sich bewusst sein – ist ein integraler Bestandteil der Mizwa. Aus diesem Grund, sagt Rabba im Talmud (Sukka 2a), ist eine Sukka, die höher als 20 Ellen (etwa neun Meter) ist, ungültig, denn wenn das »Sechach«, das Dach, so hoch über deinem Kopf ist, bist du dir dessen nicht bewusst. Was also ist eine Laubhütte?

Wolken Zwei Weise der Mischna waren sich nicht einig in dieser Frage. Rabbi Eliezer war der Meinung, die Sukka repräsentiere die Wolken der Herrlichkeit, mit der Gott die Israeliten während der Wüstenjahre umgab, die sie tagsüber vor Hitze und nachts vor Kälte schützten und mit dem Glanz der göttlichen Gegenwart überschütteten. Diese Ansicht spiegelt sich in einer Reihe von Targumim wider. In seinem Kommentar sieht Raschi darin den »offensichtlichen Sinn« des Verses.

Rabbi Akiva hingegen sprach von »Sukkot mamasch«– das heißt, eine Sukka ist eine Sukka, nicht mehr und nicht weniger: eine Hütte, eine Zelle, eine temporäre Wohnung. Es gibt keine Symbolik. Es ist, was es ist (Sukka 11b).

Wenn wir Rabbi Eliezer folgen, wird klar, warum wir feiern, indem wir eine Laubhütte bauen. Die Sukka soll uns an ein Wunder erinnern. Bei allen drei Pilgerfesten geht es um Wunder. An Pessach geht es um das Wunder des Exodus, als Gott uns mit Zeichen und Wundern aus Ägypten herausführte. Schawuot erinnert, laut der mündlichen Tora, an das Wunder der Offenbarung am Berg Sinai, als Gott – das einzige Mal in der Geschichte – einer ganzen Nation erschien. Sukkot handelt von Gottes liebevoller Fürsorge für Sein Volk, als Er die Härten der Reise durch die Wüste milderte, indem Er es mit Seiner schützenden Wolke umgab, wie Eltern ein kleines Kind in eine Decke hüllen. Noch lange danach erinnert der Anblick der Decke an die Wärme der elterlichen Liebe.

Wunder Die Sichtweise von Rabbi Akiva hingegen ist äußerst problematisch. Wenn eine Sukka nur eine Hütte ist, was war dann das Wunder? Es ist nicht ungewöhnlich, in einer Hütte zu leben, wenn man in der Wüste ein nomadisches Dasein führt. Die Beduinen lebten noch bis vor Kurzem so. Einige tun es immer noch. Warum sollte es ein Fest geben, das etwas Gewöhnlichem, Alltäglichem und Nicht-Wunderbarem gewidmet ist?

Sukkot ist das einzige Fest, von dem es im Tanach heißt, es werde eines Tages von der ganzen Welt gefeiert.

Der Raschbam, Raschis Enkel, erklärt, die Sukka habe die Aufgabe, die Israeliten an ihre Vergangenheit zu erinnern, sodass sie sich in dem Moment, in dem sie die größte Befriedigung darüber empfinden, in Israel zu leben – in der Zeit, in der die Früchte des Landes geerntet werden –, ihrer bescheidenen Herkunft entsinnen. Einst waren sie eine Gruppe von Flüchtlingen ohne Heimat, die in einem Elendsquartier, einem Slum, lebten und nie wussten, wann sie weiterziehen mussten.

Sukkot, sagt Raschbam, ist eng mit der Warnung vor den Gefahren von Sicherheit und Wohlstand verbunden, die Mosche den Israeliten am Ende seines Lebens gab: »Dann nimm dich in Acht und vergiss den Herrn, deinen Gott, nicht (...). Und wenn du gegessen hast und satt geworden bist und prächtige Häuser gebaut hast und sie bewohnst, wenn deine Rinder, Schafe und Ziegen sich vermehren und Silber und Gold sich bei dir häuft und dein gesamter Besitz sich vermehrt, dann nimm dich in Acht, dass dein Herz nicht hochmütig wird und du den Herrn, deinen Gott, nicht vergisst, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, geführt hat (...).

Dann nimm dich in Acht und denk nicht bei dir: Ich habe mir diesen Reichtum aus eigener Kraft und mit eigener Hand erworben« (5. Buch Mose 8, 11–17). Das Laubhüttenfest, so Raschbam, soll uns an unsere bescheidenen Ursprünge erinnern, damit wir nie in selbstgefälliger Zufriedenheit die Freiheit, das Land Israel und die Segnungen, die es hervorbringt, als selbstverständlich hinnehmen und denken, all das sei der normale Lauf der Geschichte.

Brautzeit Man kann Rabbi Akiva aber auch anders verstehen, nämlich im Sinne einer der wichtigsten Zeilen in der prophetischen Literatur. Der Prophet Jeremia sagt in den Worten, die wir an Rosch Haschana sprechen: »Ich denke an deine Jugendtreue, an die Liebe deiner Brautzeit, wie du mir in der Wüste gefolgt bist, im Land ohne Aussaat« (2,2). Dies ist eine der sehr seltenen Zeilen im Tanach, der Hebräischen Bibel, die nicht Gott preisen, sondern das Volk Israel.

»Wie seltsam von Gott / die Juden zu wählen«, lautet ein berühmter Reim, und die Antwort: »Nicht ganz so seltsam / die Juden wählten Gott.« Auch wenn sie manchmal streitsüchtig, rebellisch, undankbar und eigensinnig waren – sie hatten den Mut, zu reisen, sich auf den Weg zu machen, die Sicherheit hinter sich zu lassen und dem Ruf Gottes zu folgen, wie Sara und Awraham im ersten Morgengrauen unserer Geschichte.

Wenn die Sukka Gottes Wolken der Herrlichkeit darstellt, wo war dann »die Jugendtreue, die liebende Güte deiner Brautzeit«? Opfer sind nicht notwendig, wenn Gott dich erkennbar beschützt, in jeder Hinsicht und zu jeder Zeit. Doch wenn wir Rabbi Akiva folgen und die Sukka als das sehen, was sie ist, nämlich das vorübergehende Zuhause eines vorübergehend obdachlosen Volkes, dann ist es sinnvoll zu sagen, dass Israel den Mut einer Braut zeigte, die ihrem Mann auf eine riskante Reise folgte, an einen Ort, den sie nie zuvor gesehen hat – eine Liebe, die sich darin zeigt, dass sie bereit ist, in einer Hütte zu leben, und ihrem Mann vertraut, der versprochen hat, sie würden eines Tages ein dauerhaftes Zuhause haben.

Wir sitzen in echten Hütten, den Elementen ausgesetzt – und es ist eine Zeit der Freude.

Wenn das so ist, dann offenbart sich in den drei Pilgerfesten eine wunderbare Symmetrie. Pessach steht für die Liebe Gottes zu Seinem Volk. Sukkot repräsentiert die Liebe des Volkes zu Gott. Schawuot steht für die Gegenseitigkeit der Liebe, die Ausdruck findet im Bund auf dem Sinai, in dem sich Gott dem Volk und das Volk Gott verpflichtete. (Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung, auf einem etwas anderen Weg, kommt Rabbi Meir Simcha aus Dvinsk, Meschech Chochma zum 5. Buch Mose 5,15. Ich danke David Frei vom Londoner Beit Din für diesen Hinweis.)

Metapher In dieser Interpretation ist die Laubhütte eine Metapher für die jüdische Situation nicht nur während der 40 Jahre in der Wüste, sondern auch in den fast 2000 Jahren im Exil und in der Zerstreuung. Über Jahrhunderte lebten die Juden, ohne zu wissen, ob sich der Ort, an dem sie sich niedergelassen hatten, als bloß vorübergehende Behausung erweisen würde. Um nur eine historische Periode als Beispiel zu nennen: 1290 wurden die Juden aus England und in den nächsten zwei Jahrhunderten aus fast allen Ländern Europas vertrieben. Der Höhepunkt war die Vertreibung aus Spanien 1492 und aus Portugal 1497. Sie lebten in einem Zustand permanenter Ungewissheit. Sukkot ist das Fest der Ungewissheit.

Was wirklich bemerkenswert ist, ist, dass es in der Tradition »Seman simchatenu« genannt wird, »unsere Zeit der Freude«. Für mich liegt hier das Wunder im Kern der jüdischen Erfahrung: dass die Juden im Laufe der Jahrhunderte auf allen Ebenen ihrer Existenz in der Lage waren, mit dem Risiko und der Ungewissheit zu leben und – während sie »im Schatten des Glaubens« saßen, »betzila de-mehemnuta« (so die Beschreibung der Sukka im Zohar, Emor, 103a) – sich dennoch freuen konnten.

Das ist geistiger Mut ersten Ranges. Ich habe oft argumentiert, Glaube sei keine Gewissheit: Glaube ist der Mut, mit der Ungewissheit zu leben. Das ist es, was Sukkot ausmacht, wenn das, was wir feiern, »Sukkot mamasch« ist, nicht die Wolken der Herrlichkeit, sondern die Verletzlichkeit von tatsächlichen Hütten, die Wind, Regen und Kälte ausgesetzt sind.

Glauben Ich sehe diesen Glauben heute im Volk und im Staat Israel. Es ist erstaunlich, wie die Israelis seit der Gründung des Staates mit der permanenten Bedrohung durch Krieg und Terror leben und dennoch der Angst nicht nachgeben. Ich spüre selbst bei den weltlichsten Israelis einen tiefen Glauben, vielleicht nicht »religiös« im herkömmlichen Sinne, doch Glauben: an das Leben, die Zukunft und die Hoffnung. Israelis veranschaulichen perfekt die Antwort, die Gott der Tradition zufolge Mosche gab, als dieser an der Glaubensfähigkeit des Volkes zweifelte: »Sie sind Gläubige, die Kinder von Gläubigen« (Schabbat 97a). Das heutige Israel ist eine lebendige Verkörperung des Gefühls, in einem Zustand der Ungewissheit zu existieren und dennoch Freude zu empfinden.

Und das ist die Botschaft von Sukkot an die Welt. Sukkot ist das einzige Fest, von dem es im Tanach heißt, es werde eines Tages von der ganzen Welt gefeiert (Sacharja 14, 16–9). Das 21. Jahrhundert zeigt uns, was das bedeuten könnte. Den größten Teil der Geschichte hindurch lebten die meisten Menschen in einem Universum, das sich zu ihren Lebzeiten nicht groß veränderte.

Und dann gab es die seltenen Zeiten großer Umbrüche: die Geburt der Landwirtschaft, die ersten Städte, der Beginn der Zivilisation, die Erfindung des Buchdrucks und die industrielle Revolution – destabilisierende Zeiten, in denen gewaltige Veränderungen die Gesellschaft erschütterten. Das Zeitalter des Umbruchs, das wir gerade durchleben und das vor allem von der Erfindung des Computers und der unmittelbaren globalen Kommunikation geprägt ist, wird eines Tages als die Ära des umfassendsten und rasantesten Wandels seit dem Beginn des Homo sapiens auf der Erde gesehen werden.

Schockwellen Seit dem 11. September 2001 haben wir Schockwellen erlebt. Während ich diese Worte schreibe, zerreißen sich einige Nationen im Bruderzwist, und keine Nation ist frei von der Bedrohung durch den Terror. Es gibt Teile des Nahen Ostens und darüber hinaus, die an Hobbes’ berühmte Beschreibung des »Naturzustandes« erinnern: ein »Krieg aller gegen alle«, in dem »fortwährende Angst und die Gefahr des gewaltsamen Todes« herrschen »und das Leben des Menschen einsam, arm, elend, nicht besser das eines Tieres und kurz« ist (Hobbes: Leviathan). Unsicherheit erzeugt Angst, Angst erzeugt Hass, Hass erzeugt Gewalt, und Gewalt wendet sich schließlich gegen die Gewalttätigen.

Das 21. Jahrhundert wird von den Historikern eines Tages als das Zeitalter der Unsicherheit beschrieben werden. Wir als Juden sind der Welt Experten für Unsicherheit, denn wir leben seit Jahrtausenden damit. Und die höchste Antwort auf die Unsicherheit ist Sukkot, wenn wir die Sicherheit unserer Häuser hinter uns lassen und in »Sukkot mamasch« sitzen, in Hütten, die den Elementen ausgesetzt sind. Um das tun zu können und trotzdem zu sagen: Das ist »Seman simchatenu«, unser Fest der Freude, ist die höchste Errungenschaft des Glaubens, das ultimative Mittel gegen die Angst.

Der Glaube ist die Fähigkeit, sich inmitten von Instabilität und Veränderung zu freuen und durch die Wüste der Zeit zu einem unbekannten Ziel zu reisen. Glaube ist nicht Angst. Glaube ist nicht Hass und nicht Gewalt. Das sind wichtige Wahrheiten, die nie dringender gebraucht wurden als heute.

Der Autor war Oberrabbiner von Großbritannien. Mehr von Rabbiner Sacks finden Sie auf der Website www.rabbisacks.org.

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Keffiyeh

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024

Wajeze

»Hüte dich, darüber zu sprechen«

Die Tora lehrt, dass man ein Gericht anerkennen muss und nach dem Urteil nicht diskutieren sollte

von Chajm Guski  06.12.2024

Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024

Hildesheimer Vortrag 2024

Für gemeinsame Werte einstehen

Der Präsident der Yeshiva University, Ari Berman, betonte die gemeinsamen Werte der jüdischen und nichtjüdischen Gemeinschaft

von Detlef David Kauschke  05.12.2024

Naturgewalt

Aus heiterem Himmel

Schon in der biblischen Tradition ist Regen Segen und Zerstörung zugleich – das wirkt angesichts der Bilder aus Spanien dramatisch aktuell

von Sophie Bigot Goldblum  05.12.2024

Deutschland

Die Kluft überbrücken

Der 7. Oktober hat den jüdisch-muslimischen Dialog deutlich zurückgeworfen. Wie kann eine Wiederannäherung gelingen? Vorschläge von Rabbiner Jehoschua Ahrens

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  05.12.2024

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024