Der Name eines Menschen hilft uns, ihn zu identifizieren und ihn anzureden. Wenn eine Person zweimal beim Namen gerufen werden muss, ist das entweder ein Zeichen, dass sie nicht gut hört oder dass der Ruf zu leise war. Diese Möglichkeiten können jedoch nicht auf G’ttes Ruf zutreffen.
Viermal kommt es in den gesamten Prophetenschriften des Tanach vor, dass Personen von G’tt zweimal mit ihrem Namen angerufen werden: Bei Awraham (1. Buch Mose 22,1), Mosche (2. Buch Mose 3,4), Schmuel (Samuel I 3,10) und bei Jakow in unserem Wochenabschnitt (1. Buch Mose 46,2): »Und der Ewige redete zu Israel in nächtlicher Erscheinung, und Er sprach: ›Jakow, Jakow!‹, und dieser sagte: ›Hier bin ich.‹«
In jeder Generation gibt es einen Awraham
G’tt rief jeden dieser Männer zweimal an – einmal die Person selbst und ein zweites Mal für die künftigen Generationen. Denn in jeder Generation gibt es einen Awraham, der besonders auf den Wegen des »ursprünglichen« Awraham wandelt, seine Eigenschaften übernimmt, verkörpert und weiterführt. Dasselbe gilt auch für die anderen drei doppelt Genannten.
Jeder dieser Gerufenen symbolisiert einen Grundstein des jüdischen Volkes: Awraham steht für Güte, Chesed, denn er war stets wohltätig, bewirtete wildfremde Menschen, selbst unter für ihn schwierigen Bedingungen. Er betete auch für das Wohlergehen des Königs Awimelech, der ihm zuvor die Frau weggenommen hatte. Und er setzte sich vor G’tt sogar für Bösewichte wie die Bewohner Sedoms ein. Mosche steht für die Tora, das Fundament des Judentums, als ihr Schreiber und Überbringer. Schmuel steht sinnbildlich für das Königtum, das er durch die Salbung der ersten zwei Könige Israels im Auftrag G’ttes initiierte und damit eine neue Epoche für das jüdische Volk einläutete.
Doch wofür steht Jakow? Sein Leben war von Komplikationen gekennzeichnet: Von Geburt an musste er sich mit seinem heißblütigen Zwillingsbruder Esaw messen, schließlich vor ihm fliehen, nur um in die Fänge des betrügerischen Onkels Lawan zu geraten. Nach 20 Jahren war auch da die Flucht angesagt, zurück ins Land Israel und damit auch direkt zurück in die Arme Esaws, der ihm bewaffnet und mit 400 Söldnern entgegenzog und ihn einmal mehr um sein Leben und das Leben seiner Familie bangen ließ. Kaum war diese Hürde überwunden, starb seine geliebte Frau Rachel, seine Tochter Dina wurde geraubt, vergewaltigt und festgehalten. Wenige Jahre später wurde sein geliebter Sohn Josef in die Sklaverei verkauft, den er auch noch für tot hielt. Als dieser sich 22 Jahre später nicht nur als lebend, sondern auch noch als Herrscher über Ägypten erwies, folgte der nächste Gang ins Exil, diesmal nach Ägypten, wo Jakow sein Leben weit weg von seiner ersehnten Heimat und der Ruhe für den Lebensabend beenden würde. Genau hier, auf dem Weg nach Ägypten, war es, als G’tt ihn zweifach beim Namen anrief: Jakow, Jakow! Denn dieser Name steht wie kein anderer für Flucht und Sorgen, er wurde zum Symbol für Exil.
Das Exil drückte dem jüdischen Volk seinen Stempel auf
Das Exil prägte das jüdische Volk über weite Strecken und drückte ihm seinen Stempel auf. Verfolgung und Vertreibung gehörten zu seinem üblichen Leid. Jakow wies seinen Nachkommen den Weg und gab ihnen Kraft, damit umzugehen: unermüdlich und ohne Verzagen, mit Mut und Hoffnung, Klugheit und Vertrauen in G’tt.
Nicht zuletzt kommt dies auch in der Parallele zum Ausdruck, die der Talmud (Brachot 26b) zwischen den Vorvätern und den drei täglichen Gebeten zieht: Awraham richtete das Morgengebet ein, Jizchak das Nachmittagsgebet und Jakow das Abendgebet. Awraham steht für die aufgehende Sonne, die Verbreitung der Anerkennung G’ttes in der Welt, Jizchak für die Beständigkeit, mit der er den Weg seines großen Vaters übernahm und an seinen Sohn weiterreichte, genauso wie das Nachmittagsgebet mitten am Tag Beständigkeit erfordert. Jakow aber steht für das Abend- und Nachtgebet, das er auf der Flucht vor seinem Bruder Esaw einführte. Das Abendgebet drückt das Vertrauen in G’tt zu nächtlicher Zeit, die Resilienz angesichts der Kräfte der Dunkelheit und die Hoffnung auf das nahende Licht am kommenden Morgen aus.
Jakow wurde jedoch auch zu Israel, ohne seinen Namen Jakow zu verlieren, der für das Exil steht. In der nächtlichen Erscheinung G’ttes – auf dem Weg nach Ägypten – wird er ebenfalls zunächst als Israel bezeichnet, was folgende g’ttliche Botschaft an ihn enthält: »Du, Israel, der du dich mit G’ttes Boten (dem Engel) und dem Menschen gemessen hast und siegreich hervorgingst (1. Buch Mose 32,28). Nun ziehst du in ein langes Exil nach Ägypten und wirst da wieder zu Jakow. Deine Nachkommen werden versklavt, unterdrückt und schließlich sogar von systematischem Völkermord bedroht … Lass dich nicht unterkriegen, denn wisse: Jakow ist dazu bestimmt, Israel zu sein.«
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.
inhalt
Der Wochenabschnitt Wajigascherzählt davon, wie Jehuda darum bittet, anstelle seines jüngsten Bruders Benjamin in die Knechtschaft zu gehen. Später gibt sich Josef seinen Brüdern zu erkennen und versöhnt sich mit ihnen. Der Pharao lädt Josefs Familie ein, nach Ägypten zu kommen, um »vom Fett des Landes zu zehren«. Jakow erfährt, dass sein Sohn noch lebt, und zieht nach Ägypten. Der Pharao trifft Jakow und gestattet Josefs Familie, sich in Goschen niederzulassen. Josef vergrößert die Macht des Pharaos, indem er die Bevölkerung mit Korn versorgt.
1. Buch Mose 44,18 – 47,27