Wohl kein Rabbiner der vergangenen 500 Jahre hat das Studium des jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha, so stark beeinflusst wie Rabbi Josef Karo (1488–1575). Von manchen wird er einfach als »Maran« – Meister – bezeichnet, bei anderen ist er als »Mechaber« – Autor – bekannt. Das passt, denn Rabbi Karo verfasste den Schulchan Aruch, nicht weniger als das wichtigste halachische Werk der gesamten jüdischen Geschichte.
Doch von vorn. Rabbi Josef Karo wurde 1488 in Spanien geboren. Nur vier Jahre später, im Zuge der sogenannten Reconquista, eroberten katholische Herrscher das letzte muslimisch beherrschte Gebiet Spaniens und ordneten die Vertreibung aller nicht-konvertierten Juden an. Die Familie Karo flüchtete nach Portugal. Doch nur wenige Jahre später begann auch dort die Verfolgung. Im Alter von nur zehn Jahren erlebte der junge Josef so erneut eine Vertreibung.
Zuflucht im Osmanischen Reich
Viele Juden fanden Zuflucht im Osmanischen Reich, so auch seine Familie. Die Osmanen wiederum eroberten nur 20 Jahre später das Heilige Land – eine Wendung der Geschichte, die auch das Leben von Rabbi Karo beeinflussen sollte. Denn nachdem er in Marokko, in Bulgarien und in türkischen Städten gelebt hatte, ließ er sich nach der Eroberung durch die Osmanen in Safed, im heutigen Israel, nieder.
Die Osmanen förderten die Ansiedlung der jüdischen Flüchtlinge im Heiligen Land, besonders in der strategisch wichtigen Stadt Safed, da sie sich so einen wirtschaftlichen Aufschwung der just eroberten Region erhofften. Der Plan ging auf: Im 16. Jahrhundert hatte Safed ungefähr 10.000 bis 15.000 jüdische Einwohner und wurde langsam, aber sicher zum Zentrum der gesamten jüdischen Welt, in dem sich die klügsten Köpfe versammelten. Allen voran Josef Karo.
Josef Karo entwickelte sich in Safed zu einem brillanten Rechtsgelehrten, der eine präzise Logik in seinen Rechtsentscheidungen verfolgte und die Denkweisen früherer Gelehrter meisterhaft nachvollzog. Nachdem er seinen Gelehrtenstatus bewiesen hatte, schrieb er seinen eigenen Kodex, den Schulchan Aruch – zu Deutsch: »Gedeckter Tisch«.
Rabbi Karo selbst erklärt diesen außergewöhnlichen Titel in der Einleitung: In diesem Buch würden jedem Gelehrten die Köstlichkeiten aus der Welt der Toragesetze wohlgeordnet und klar aufgetischt. Sein Buch, so schreibt Karo, sei »für Kinder und Erwachsene, Schüler und Weise, die Langsamen und die Klugen«. Sein Werk wurde anders als alle vorherigen Kodizes vom gesamten Judentum als der wichtigste halachische Kodex anerkannt.
Rabbi Karo migrierte in seinem jungen Leben etliche Male. Nicht immer freiwillig.
Doch wie konnte das Buch so populär werden? Und wovon handelte es? Das Judentum glaubt an die Existenz der schriftlichen und der mündlichen Tora. Während die fünf Bücher Mose – die sogenannte schriftliche Tora – das Grundgerüst bilden, können sie nur durch die Brille der mündlichen Überlieferung interpretiert werden. Diese mündliche Überlieferung wurde im Jerusalemer Talmud und im Babylonischen Talmud festgehalten. Letzterer gilt als der für die Rechtsprechung maßgeblichere Teil, da er später geschrieben wurde und als vollständiger angesehen wird.
Kein reines Gesetzbuch, sondern vielmehr eine Diskussion
Der Babylonische Talmud ist jedoch kein reines Gesetzbuch, sondern vielmehr eine Diskussion: ein Gedankenlabyrinth, das sich selbst immer wieder hinterfragt und relativiert, gelegentlich Geschichten und Metaphern einfügt und Fragen oft offenlässt. Seine Verschriftlichung wurde im fünften Jahrhundert abgeschlossen.
Da jedoch nicht jeder Jude in der Lage war, den gesamten Talmud zu meistern und selbstständig Gesetze daraus abzuleiten, begannen einzelne Rabbiner in den darauffolgenden Jahrhunderten, halachische Kodizes zu verfassen. Diese gaben klare Anweisungen für die Praxis in religiösen und juristischen Fragen, waren jedoch meist kurz gefasst und erklärten nicht im Detail die dahinterliegenden Denkprozesse. Ganz anders der Schulchan Aruch von Josef Karo, der in einfacher Sprache seinen »Schülern« doch die volle Komplexität zutraute.
Die Autorität von Rabbi Karo war zu seinen Lebzeiten beispiellos. Als etwa einige Juden im weit entfernten Frankreich sich in einer Steuerfrage unfair behandelt fühlten, wandten sie sich mit einem Brief an Rabbi Karo in Safed. Seine Antwort genügte, um die Streitigkeiten in Frankreich zu schlichten. In seinen letzten Lebensjahren war Karo eine Art »König der jüdischen Welt«, dessen Wort reichte, um juristische Fragen zu lösen.
Der analytisch veranlagte Rabbiner hatte noch eine andere Seite.
Als Rabbi Mosche Isserles (1530–1572), der bedeutendste Rabbiner Polens, erfuhr, dass Rabbi Karo sein Werk veröffentlichte, brach er aus Respekt die Veröffentlichung eines eigenen Kodex ab, um nicht den Eindruck zu erwecken, er stelle Karos Autorität infrage. Stattdessen ergänzte er den Schulchan Aruch mit aschkenasischen Traditionen, sodass das Werk für alle jüdischen Gemeinden maßgeblich wurde.
Während Rabbi Josef Karo von der gesamten jüdischen Welt als der klügste Kopf anerkannt wurde und seine Werke auf eine Persönlichkeit hinweisen, die maximal analytisch ist und mit einer computerähnlichen Genauigkeit Rechtstexte analysiert, hatte der Gelehrte noch eine andere Seite.
Eine Art Schutzengel, der seitdem nicht mehr von seiner Seite wich
Wohl im Jahr 1533 erschien ihm laut eigenen Aussagen der Maggid, eine Art Schutzengel, der seitdem nicht mehr von seiner Seite wich. Dieser kommunizierte demnach ständig mit Karo, sagte ihm die nähere Zukunft voraus, erzählte ihm Dinge aus der Tora und ermahnte den Rabbiner immer wieder, asketisch zu leben, noch mehr zu lernen. Er soll auch stets Karos wichtige Rolle für das Judentum und die gesamte Welt betont haben. Rabbi Karo sammelte die Gespräche mit dem Engel in einem Tagebuch und schrieb zu den Einträgen immer das Datum und den Wochentag der Offenbarung.
Das Tagebuch wurde erst 70 Jahre nach Karos Tod im Jahr 1575 als das Buch Maggid Mescharim veröffentlicht, weswegen manche meinten, dass es gar nicht aus seiner Feder stammen könne. Gleichzeitig hatte Karo stets viele Kritiker – einer der Gründe, weswegen sein Hauptwerk so viel besprochen und schließlich populär wurde.
Letztendlich scheint es, dass viele diese zweite, mystische und kabbalistische Seite Karos nicht ganz wahrhaben wollten. Wie konnte ein so intellektueller Denker, von seinem persönlichen Schutzengel träumen? Doch es waren ebenjene zwei Seiten, die vielen widersprüchlich erschienen, aber dennoch gemeinsam die Persönlichkeit von Rabbiner Karo ausmachten.