Paraschat Balak

Mit allen Schwächen

Alles wird infrage gestellt. Foto: Getty Images / istock

Drei bedeutsame Männer, drei widersprüchliche Charaktere. Der erste wollte die Welt retten, der zweite eine Ehe, der dritte sein Königreich. Beim ersten handelt es sich um Noach. Im Tanach erscheint er als Held. Der Mann hämmerte 120 Jahre lang an einem Boot, während ihn die Leute verlachten. Der Talmud (Sanhedrin 109) stichelt gegen Noach und erwähnt eine anonyme Quelle: »Zu Zeiten Awrahams wäre Noach ein Nichts gewesen.«

Jitro Die zweite Person ist Mosches Schwiegervater Jitro. Er hat nicht die Welt gerettet, aber immerhin die Ehe von Mosche Rabenu. Er war verantwortlich für die Familienzusammenführung von Mosche und seiner Frau sowie den Kindern. Dafür wanderte Jitro tagelang durch die Wüste, bis er die Israeliten einholte.

Ist er ein Held? Nun ja. Die Mechilta, ein halachischer Midrasch, verschweigt uns nichts: Jitro soll sämtlichen Götzen der damaligen Zeit gedient haben. Das qualifiziert ihn wohl kaum zum Vorbild.

urtext Kommen wir zum Namensgeber der heutigen Parascha: Balak. Beim Studium des Urtextes erscheint uns Balak als umsichtige Persönlichkeit. Balak ist der König von Moab. Als Monarch versuchte er, sein Volk vor Eindringlingen zu schützen. Israel steht kurz vor der Grenze Moabs. Balak hat den Sieg des jüdischen Volkes über die Emoriter aus der Ferne mitverfolgt. Er wusste: »Israel schlug ihn (den König der Emoriter) mit der Schärfe des Schwerts und nahm sein Land in Besitz« (4. Buch Mose 21,24).

Drei Persönlich­keiten aus dem Tanach werden von unseren Weisen in kurzen Worten demaskiert.

Balak ist der erste König des Tanachs, der gleich zu Beginn Gefühle zeigt: »Da fürchtete sich Moab (vor den Israeliten).« Die Angst vor einem bevorstehenden Krieg ging so weit, dass es zum Schulterschluss der beiden Erzfeinde Moab und Midjan kam. Balak, der König Moabs, holt sich nämlich Rat bei den Ältesten von Midjan.

Der Schluss, den Balak aus dieser Unterredung zog, lässt sich nicht anders als brillant nennen. Er heuert einen Propheten an, der Israel verfluchen und schwächen soll. Danach, so Balaks Plan, würde Israel militärisch bezwingbar sein. Auch bei der Wahl des Propheten zeigte er großes Geschick: Er wählte Bileam.

Stufe Dass es sich bei diesem Mann um keinen Marktschreier handelt, zeigt eine Stelle im talmudischen Midrasch Rabba. Bileam soll demnach auf der gleichen Stufe wie Mosche gestanden haben. Die beiden Antipoden waren in Bezug auf Prophezeiungen ebenbürtig.

Nach heutigem Verständnis mutet Balaks Plan seltsam an. Sehr fern liegen uns solche Ränkespiele. Ein Mann, Bileam, wird aufgeboten, um ein Volk zu verfluchen? Und den Leuten soll es hinterher schlecht ergehen? Wer so denkt, hat nicht weitergelesen. Später kommt ja die berühmte Geschichte mit dem Esel. Es erscheinen Engel und ein bedrohliches Schwert. Doch nur der Esel sieht die Zeichen, Bileam nicht. Der Esel bockt. Bileam schlägt auf ihn ein. Der Esel dreht sich zu Bileam hin – und redet in Menschensprache.

Wäre Bileam kein so starker Influencer, hätte Gott wohl kaum den Esel reden lassen, damit Bileam von seinen Taten absieht.

Zurück zu Balak, dem Auftraggeber. Der König Moabs erscheint im Tanach als clever, umsichtig und verhandlungssicher. Man muss ihn nicht mögen, aber als großer Strippenzieher hat er Respekt verdient. Eigentlich.

Der große Kommentator Raschi braucht nur 14 Wörter, um diese Gestalt in eine lächerliche Person zu verwandeln. Und was Raschi schreibt, hat Gewicht: Balak war nur ein Zwischenkönig. Und überhaupt: »Er war des Amtes eines Königs nicht würdig.«

urteil Fassen wir zusammen: Drei Persönlich­keiten aus dem Tanach werden von unseren Weisen in kurzen Worten demaskiert: ein Nichts, ein Götzensüchtiger, eine Übergangslösung. Selbst die niederschmetternden Urteile des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki sel. A. kommen an die Kommentare der Rabbinen nicht heran.

Man fragt sich: Ist das nötig? Warum bedienen sich unsere Rabbinen solcher Beschreibungen? Warum entstellen sie so vehement die Persönlichkeiten des Tanachs? Noch ein Beispiel. Im Tanach kommen zwei Pharaonen vor. Der erste bildete ein kongeniales Team mit Josef. Gemeinsam mit ihm stellt er Ägyptens Versorgung für die Dürrezeit sicher (»sieben fette, sieben magere Jahre«).

Nach heutigem Verständnis mutet Balaks Plan seltsam an.

Der zweite Pharao hingegen ist das Abbild des Teufels. Er soll unter anderem im Blut jüdischer Babys gebadet und die Hebräer versklavt, erniedrigt und entmenschlicht haben.
Es gibt also einen guten und einen schlechten Pharao. Der Talmud (Sota 11) ist sich da nicht sicher und führt eine Lehrmeinung an, wonach es sich bei dem guten und dem bösen Pharao um ein und dieselbe Person handeln soll. Also nicht einmal der gute Pharao aus dem 1. Buch Mose glänzt unbelastet.

Ich habe lange darüber nachgedacht, warum das so ist. Ich kenne die Antwort nicht. Vielleicht habe ich etwas nicht verstanden.

charakter Ein Grund könnte mit dem »jüdischen Wesen« zusammenhängen – falls es ein solches gibt.

Gott selbst sagt über das jüdische Volk: »Ich sehe nun, dass dieses Volk ein hartnäckiges Volk ist« (2. Buch Mose 32,9). Die Israeliten wurden von einer 210-jährigen Knechtschaft aus Ägypten erlöst und beschweren sich im Laufe der Wüstenwanderung immer wieder über das Essen, über Mosche und über Gott.

Alles wird infrage gestellt. Selbst der beliebte Hohepriester Aharon. Auch das Land Israel wird kritisiert. Höhepunkt ist das Goldene Kalb. Weil Mosche einen Tag länger als gedacht auf dem Berg Sinai bleibt, gießt das Volk gleich einen Götzen aus Gold.

Löwe Das Wappentier Jerusalems ist der Lö­we. Eigentlich wäre der Esel besser. Das Huftier ist ebenfalls hartnäckig, und es ist stur wie kein zweites Tier. Trotz dieses schwierigen Charakters war es gerade ein Esel, der die Engel und den Abgrund in der Geschichte Bileams erkannte. Der Esel erkannte sowohl den wirklichen Bileam als auch die verborgenen Engel. Darum verließ er den Weg.

Das Wappentier Jerusalems ist der Lö­we. Eigentlich wäre der Esel besser.

Auf diese Gabe können sich wahrscheinlich auch unsere Weisen stützen. Sie erfassen die Persönlichkeiten des Tanachs ganzheitlich. Noach war ein Held, aber nur zu seiner Zeit. Jitro gebührt Hochachtung für seine Anstrengung. Mehr nicht. Und Balak? Ein guter Einfall, Angst und Judenhass machen noch keinen guten König aus. Zum Glück nicht.

Der Autor ist Schweizer Journalist und hat an Jeschiwot in Gateshead und Manchester studiert.

inhalt
Der Wochenabschnitt hat seinen Namen von einem moabitischen König. Dieser fürchtet die Israeliten und beauftragt den Propheten Bileam, das Volk Israel zu verfluchen. Doch Bileam segnet es und prophezeit, dass dessen Feinde fallen werden.
4. Buch Mose 22,2 – 25,9

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