Sehr oft ist zu hören: »Wenn es keine Kriege in der Welt gäbe, dann würde ich an G’tt glauben.« Oder es heißt: »Wenn es G’tt gäbe, dann würde mein Freund nicht sterben.« Andere wiederum behaupten, die Schoa sei ein klarer Beweis dafür, dass G’tt nicht existiert oder dass Er die Welt oder zumindest das jüdische Volk verlassen hätte.
Dazu eine Geschichte von einem Mann, der sich nicht von G’tt abgewandt, sondern vielmehr dem jüdischen Volk und seinem Glauben zugewandt hatte: Jitro. Ein ganzer Wochenabschnitt ist ihm im 2. Buch Moses gewidmet, und er beginnt mit den Worten: »Wajischma Jitro«.
Das wird gewöhnlich so übersetzt: »Und Jitro hörte«. Doch was hörte er? Diese Frage beantwortet Raschi und kommentiert den Vers folgendermaßen: »Kriat Jam Suf we-Milchamat Amalek« (Spaltung des Schilfmeers und Krieg gegen Amalek). Anscheinend haben diese beide Ereignisse Jitro dazu bewogen, sich den Israeliten anzuschließen.
Doch warum ausgerechnet diese beiden Ereignisse? Raw Chaim Kanievskiy beantwortet diese Frage mithilfe eines Midraschs. Der besagt, dass die Amalekiter nur die Soldaten für den Kampf gegen das jüdische Volk auswählten, die an diesem Tag Geburtstag hatten. Denn zu diesem Zeitpunkt steht das Sternbild eines Menschen in der für ihn günstigsten Konstellation.
ie Kräfte der Natur sollten den Amalekitern dazu verhelfen, das jüdische Volk zu zerstören. Mit anderen Worten: Es war ein Kampf zwischen G’tt an der Seite der Juden und den Kräften der Natur auf der Seite der Amalekiter. Der Ausgang der Auseinandersetzung ist bekannt, die Amalekiter wurden beinahe komplett ausgerottet, und G’tt besiegte die Kräfte der Natur.
Wunder Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Spaltung des Schilfmeeres, bei der erneut alle Gesetze der Natur auf den Kopf gestellt wurden. Und die Welt hat es gesehen. Laut Rabbiner Kanievskiy war das der Grund, warum diese beiden Ereignisse Jitro dazu bewogen haben, das Anbeten der Natur (der Götzen) zu unterlassen und sich einem Volk anzuschließen, das einen G’tt anbetet, dem die Natur unterliegt.
Dem Midrasch zufolge befürchteten die Menschen eine neue Sinflut, als sie erfuhren, wie sehr die Natur überall auf der Welt verrückt spielte. Doch ihr Prophet Bilam beruhigte sie und sagte, dass G’tt gerade dabei sei, sein Volk aus Ägypten herauszuführen und ihm die Tora zu geben. Diese Ereignisse würden von großen Wundern begleitet. »Wenn das so ist«, sagten die Völker, »dann wollen wir auch diese Tora haben«.
So machten sie sich gemeinsam auf den Weg, um die Heilige Schrift zu empfangen. In diesem Moment wurde das jüdische Volk von den Amalekitern angegriffen. Und als alle anderen sahen, dass auch das jüdische Volk verwundbar ist, und erfahren mussten, dass die Tora nicht nur Wunder, sondern zudem viele Pflichten mit sich bringt, wandten sie sich ab.
In der Tora erscheint bei der Schilderung der Begegnung zwischen dem jüdischen Volk und den Amalekitern der Ausdruck »Ascher Karcha Baderech«. Dies kann als »Der dich abgekühlt hat« übersetzt werden. Das jüdische und alle anderen Völker waren durch den Angriff von Amalek in ihrer Inspiration eingeschränkt. Die Juden ließen sich davon nicht irritieren, die anderen hingegen schon. Mit einer Ausnahme: Jitro. »Wajischma Jitro« lässt sich also auch als »Und Jitro vernahm« verstehen. »Schma« bedeutet eben nicht nur »hören«, sondern auch »verstehen«.
Allegorie Rabbiner Eliyahu Eliezer Dessler weiß dazu eine Allegorie: Man bedecke mit einem Stück Papier die Weltkarte, danach steche man ein kleines Loch hinein. Eine unwissende Person wird nun denken, dass dieses schmale Stück Land, das sie durch das Loch erkennen kann, die ganze Welt ist. Doch sobald man das Papier wegnimmt, ist zu erkennen, wie falsch diese Vermutung sein kann.
Genau so, sagt Raw Dessler, sind wir. Wir erleben einen winzigen Teil der Weltgeschichte, und ohne den Rest sehen zu können, ziehen wir daraus Schlussfolgerungen. Doch in Wirklichkeit zeigt sich uns nur ein Bruchteil der Geschichte, den wir ohne den gesamten Kontext – die Ereignisse davor und danach – nicht verstehen können.
Genau das hatte Jitro verstanden. Im Vergleich zum Wunder der Spaltung des Schilfmeeres war der Angriff der Amalekiter nur ein unbedeutendes Hindernis auf dem Weg zum Erhalt der Tora.
Das ganze jüdische Volk, sowohl auf allgemeiner wie auch bei vielen von uns auf persönlicher Ebene, hat sehr viele Hindernisse und Rückschläge einstecken müssen. Manche Katastrophen, die wir durchlebt haben, waren von einem unbeschreiblich großen Ausmaß.
Doch allein die Tatsache, dass das jüdische Volk trotz alledem immer noch existiert, ist das größte Wunder überhaupt, ein offensichtlicher Beweis für die Existenz G’ttes und dafür, dass wir Sein auserwähltes Volk sind. Und am Ende der Tage, wenn der Maschiach kommen wird, wird sich uns die ganze Weltgeschichte öffnen, und wir werden den Sinn des Geschehens verstehen.
Dies ist auch eine der Bedeutungen des Psalmenverses, den wir an Feiertagen stets vor dem Tischgebet sprechen. »Dann werden unsere Münder sich mit Lachen füllen.« Gemeint sind die Tage des Maschiachs. Wir werden lachen, weil wir verstehen, wie blind und begrenzt wir waren und warum wir den offensichtlichen Lauf der Geschichte nicht erkennen konnten.
Der Autor ist Assistenzrabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln und Autor des Buches »Die moderne Welt durch die Brille der Tora«.