Kontroverse

Lasst uns reden!

Die Diskussion geht weiter: In der Mai-Ausgabe der »Herder Korrespondenz« eine Replik auf die Replik geben. Foto: imago/Panthermedia

Ein Aufsatz in der Monatszeitschrift »Herder Korrespondenz« hat zu einer Kontro­verse geführt. In einem Essay in der März-Ausgabe schrieb Rabbiner Jehoschua Ah­rens, Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD), es gebe die Wahrnehmung, »dass nur – oder vor allem – das liberale Judentum im Dialog mit dem Christentum engagiert sei und die jüdische Orthodoxie kaum Interesse, ja sogar Vorbehalte habe«. Doch dies sei falsch.

»NISCHENPHÄNOMEN« Ahrens, im interreligiösen Dialog aktiv und seit einigen Jahren Mitteleuropa-Direktor des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation, wirft in seinem Beitrag einen Blick in die Geschichte. Er räumt ein, dass sich »für eine kurze Zeitspanne nach dem Krieg (…), also in den Sechziger- und Siebzigerjahren, fast ausschließlich liberale Vertreter« im jüdisch-christlichen Dialog engagiert hätten. Es seien jedoch »meist Emigranten« gewesen, »die als Gäste nach Deutschland kamen oder sich hier wieder niederließen« – »Einzelpersonen«, die sich »in einem Nischenphänomen engagiert« hätten »und wenig repräsentativ für die Juden in Deutschland« gewesen seien.

Im 18., 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien es »in Deutschland vor allem orthodoxe Rabbiner und Gelehrte gewesen, die den Dialog mit Christen und den Kirchen auf Augenhöhe, in gegenseitigem Respekt und Anerkennung, suchten«. Ahrens schreibt von Rabbiner Jacob Emden, der im 18. Jahrhundert eine »große Verbundenheit und Ähnlichkeit des Christentums mit dem Judentum« ausmachte, von Rabbiner Samson Raphael Hirsch, der diese Haltung im 19. Jahrhundert weiterentwickelte, und von Rabbiner David Zvi Hoffmann, der diese Ideen Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland weiterentwickelte.

RESPEKT Diesem Respekt der Orthodoxie gegenüber dem Christentum, dem »Dialog auf Augenhöhe«, stellt Ahrens die Haltung der »meisten liberalen Vertreter« jener Zeit entgegen: Sie »betrachteten das Judentum als dem Christentum überlegen und lehnten einen Dialog mit den Kirchen ab« und »sparten (…) auch nicht mit eigener Polemik gegen das Christentum«.

In der April-Ausgabe der »Herder Kor­res­pondenz« meldeten sich daraufhin zwei führende Repräsentanten des liberalen Judentums in Deutschland zu Wort: Rabbiner Andreas Nachama, der Vorsitzende der Allgemeinen Rabbinerkonferenz und jüdische Präsident des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, und der Rektor des Potsdamer Abraham Geiger Kollegs, Rabbiner Walter Homolka.

REPLIK In einer Replik auf Ahrens’ Essay schreiben sie von »wachsender Feindseligkeit« der Orthodoxie gegenüber dem Christentum. Doch hielten sie es für »hoffnungsvoll«, wenn Rabbiner Jehoschua Ahrens »zuletzt zu beobachten glaubte, dass auch das orthodoxe Judentum das Christentum als gleichberechtigte Religion respektiere«.

Wie Ahrens schauen auch Nachama und Homolka in ihrer Replik in die Geschichte. Doch anders als ihr orthodoxer Kollege heben sie Rabbiner Moses Schreiber hervor, den Chatam Sofer, der Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts »zu den höchsten Autoritäten seiner Zeit gehörte und als Vater der jüdischen Orthodoxie gilt«. Der Chatam Sofer, so die beiden Autoren, habe die Christen »nachdrücklich in die Kategorie der Götzendiener« eingeordnet. Diese Haltung der Orthodoxie habe sich bis heute nicht prinzipiell verändert, so Nachama und Homolka.

ZEITSPANNE Auch sei es falsch, wenn Rabbiner Ahrens behaupte, »die Nähe des liberalen Judentums zum Dialog mit dem Christentum habe sich auf eine ›kurze Zeitspanne nach dem Krieg‹ beschränkt«. Die »Protagonisten dieses liberalen Bemühens« seien weder »Einzelpersonen in einem Nischenphänomen« gewesen noch »Emigranten, die als Gäste nach Deutschland kamen«, sondern »zentrale Persönlichkeiten des liberalen Judentums« und »Schlüsselfiguren des jüdisch-christlichen Dialogs« wie Ernst Ludwig Ehrlich, Nathan Peter Levinson oder Rabbiner Henry G. Brandt.

»Ich habe mit Entsetzen zur Kenntnis genommen, was Rabbiner Ahrens da über die Väter des christlich-jüdischen Dialogs im Nachkriegsdeutschland von Ernst Ludwig Ehrlich bis Rabbiner Henry Brandt geschrieben hat«, sagte Rabbiner Andreas Nachama im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Doch begrüße er es, »dass es in Sachen interreligiöser Dialog jetzt auch Bewegung auf der orthodoxen Seite gibt«.

FORTSETZUNG Rabbiner Jehoschua Ahrens weist die Vorwürfe zurück. Er sagte dieser Zeitung, es sei wichtig, »die Diskussion jetzt zu versachlichen«. »Es wäre schön, wenn man einfach wieder ganz objektiv und in gutem Miteinander diskutieren könnte.« Aus diesem Grund wird es in der Mai-Ausgabe der »Herder Korrespondenz« eine Replik auf die Replik geben.

Autoren sind der Frankfurter Rabbiner Avichai Apel, Vorstandsmitglied der ORD, und Rabbiner Arie Folger, Mitglied des Ständigen Ausschusses der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER). Unter anderem wird man dort lesen: »Homolka und Nachama und dem liberalen Judentum in Deutschland gebührt großer Respekt für ihre Leistungen im christlich-jüdischen Verständnis, auch wenn wir traditionellen Juden eine ganz andere Vorstellung vom Dialog, seinen Zielen und Methoden haben.«

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