Tempolimit

Langsamer fahren, Leben retten

Ein Rabbiner begründet, warum er für eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen ist

von Rabbiner Boris Ronis  27.12.2019 12:17 Uhr Aktualisiert

Rabbiner Boris Ronis hält ein Tempolimit von 130 km pro Stunde auch aus jüdischer Sicht für dringend geboten.

Ein Rabbiner begründet, warum er für eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen ist

von Rabbiner Boris Ronis  27.12.2019 12:17 Uhr Aktualisiert

In den Niederlanden gilt bald ein Tempolimit: Auf den Autobahnen des Landes sind dann tagsüber nur noch 100 Kilometer pro Stunde erlaubt, zwischen 19 Uhr abends und sechs Uhr morgens sollen wie bisher 130 Kilometer erlaubt sein. Dies sei zwar eine »beschissene Maßnahme«, jedoch sei das Tempolimit angesichts der notwendigen Senkung des Ausstoßes von Stickoxiden unumgänglich, begründete Ministerpräsident Mark Rutte den Schritt.

In Deutschland dagegen können Fahrer auf den Autobahnen weiterhin so stark aufs Gaspedal treten, wie sie wollen: Der Bundestag hat Mitte Oktober den Antrag der Grünen-Fraktion auf die Einführung von Tempo 130 abgelehnt. »Das würde die Sicherheit auf den Straßen erhöhen, weniger Emissionen verursachen und den Geldbeutel der Autofahrer schonen«, hatte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter seine Position begründet. Damit konnte er sich zwar nicht durchsetzen, doch die Debatte über das Tempolimit ist längst nicht abgeschlossen.

Kirche Die Grünen wissen dabei die Umweltexperten der evangelischen Landeskirchen an ihrer Seite: Diese haben sich schon im März für die Einführung eines Tempolimits von 130 Stundenkilometern auf deutschen Autobahnen ausgesprochen. Sollten nun auch wir Rabbiner kollektiv Stellung zu diesem Thema beziehen? Nein, denn ich bin der Meinung, dass sich Rabbinerkonferenzen nicht zu jeder Frage der Tagespolitik äußern müssen.

Eifrige Priester wurden laut Talmud an einem Wettlauf im Tempel gehindert.

Wenn Sie mich aber persönlich fragen: Ich halte ein Tempolimit (und damit meine ich 130 km pro Stunde, nicht 100 km pro Stunde) für eine gute Sache – und auch aus jüdischer Sicht für dringend geboten. Ob damit tatsächlich die Emissionen gesenkt werden können und die Luftqualität verbessert wird, muss erst noch bewiesen werden. Doch das ist gar nicht mein Hauptargument.

Ich bin vor allem sicher, dass langsameres Fahren die Gefahr von Unfällen verringert. Jedem von uns ist es schon einmal passiert, dass er auf der Autobahn durch dichtes Auffahren in Gefahr gebracht wurde, weil ein Drängler seine PS-Stärke beweisen wollte. Nicht wenige Menschen sind deswegen zu Tode gekommen.

todesopfer Im Jahr 2018 starben in Deutschland 3265 Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr – 85 Todesopfer oder 2,7 Prozent mehr als im Jahr 2017. Damit stieg die Zahl der Verkehrstoten nach zwei Jahren Rückgang wieder an.

Auf Autobahnen registrierte die Polizei im Jahr 2018 genau 20.537 Verkehrsunfälle mit Personenschaden. Dabei kamen 424 Menschen ums Leben, das bedeutet 15 Getötete mehr als 2017. Mehrere Verkehrsstudien aus Brandenburg und Nordrhein-Westfalen zeigen eindeutig: Mit Tempo 130 reduziert sich die Zahl der Unfälle, der Verletzten und der Toten erheblich.

Aus jüdischer Sicht ist ein Tempolimit also auch eine Frage von Pikuach Nefesch. Der Talmud (Joma 84b) erörtert eine Reihe von Fällen als Beispiele dafür, wie von der Tora angeordnete Verbote aufgehoben werden können, wenn es darum geht, Leben zu retten. Wenn es aber im Sinn von Pikuach Nefesch sogar erlaubt ist, die Schabbatgesetze zu entweihen, dann ist eine Vorschrift für langsameres Fahren auf der Autobahn, um Leben zu retten, eine vergleichsweise wenig drastische Maßnahme.

Haftung Autofahren ist in Tora und Talmud natürlich kein Thema, doch in jüdischen Quellen finden wir dennoch Beispiele, die die Begründung eines Tempolimits in der heutigen Zeit untermauern können. Die Haftung für einen Schaden wird – entsprechend der damaligen Bedeutung der Viehzucht – in der Mischna und im Talmud (Baba Kama 1,1) am Beispiel von Tieren erörtert.

In dieser Stelle, wie auch schon in der Tora (2. Buch Mose 21, 28–29), geht es um einen Ochsen, für dessen Verhalten der Mensch verantwortlich ist und den er, falls er stößig ist, zu überwachen beziehungsweise einzusperren hat. Übertragen auf die heutige Zeit heißt das meiner Meinung nach, dass der Mensch sich der Technik, die er erfunden hat, verantwortungsvoll bedienen muss.

Ebenfalls im Talmud (Joma 22a) wird ein Streit um Opferriten im früheren Tempel in Jerusalem behandelt. Am frühen Morgen musste täglich die Asche der am Vortag verbrannten Tieropfer vom Altar abgeräumt werden. Ursprünglich tat dies jeder, der auf dem Altar Ordnung schaffen wollte.

Wir tragen Verantwortung nicht nur für unser eigenes Leben, sondern auch für andere.

Wenn aber zahlreiche Priester anwesend waren, liefen sie die Rampe des Altars hinauf, und derjenige, der innerhalb von vier Ellen an erster Stelle stand, sicherte sich das Privileg, die Asche vom Altar abzuräumen – denn es galt als verdienstvoll, diese Arbeit zu verrichten.

Beinbruch Es kam sogar einmal dazu, dass zwei junge Priester gerade dabei waren, die Rampe gleichzeitig hinaufzurennen. Sie ereiferten sich in dem Augenblick so sehr, dass einer von ihnen den anderen stieß, der daraufhin stolperte und sich ein Bein brach. Als das Gericht sah, dass sich die Priester durch ihren Eifer in Gefahr brachten, verfügte es, dass die Asche nur nach dem Ziehen eines Loses entfernt werden durfte.

Oft vergessen wir im Eifer des Gefechts, dass wir von anderen Menschen umgeben sind. Diese Menschen sind verletzlich, sowohl physisch als auch seelisch. Wir tragen Verantwortung nicht nur für unser eigenes Leben, sondern auch für das Leben der Menschen um uns herum.

Diese Einsicht sollten wir immer haben – übrigens nicht nur als Autofahrer, sondern auch als Fahrradfahrer im Straßenverkehr. Doch weil viele Menschen nur dann Verantwortung übernehmen, wenn man sie daran hindert, verantwortungslos zu handeln, bin ich für Tempo 130 auf der Autobahn.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz.

Zaw

Mit Umsicht und Respekt

Die Tora beschreibt, wie wir kurz vor Pessach für Bedürftige spenden sollen

von Rabbiner Joel Berger  30.03.2023

Talmudisches

Affen

Was unsere Weisen über den Orang-Utan und seine Verwandten lehrten

von Chajm Guski  30.03.2023

Behandlung

Der Truthahn-Prinz

Was Rabbi Nachman den Psychotherapeuten C.G. Jung, Milton H. Erickson und Carl Rogers voraushatte

von Rabbiner David Kraus  30.03.2023

Wajikra

Zeichen der Zuwendung

So wie sich die Engel gegenseitig rufen, wird Mosche vom Ewigen gerufen

von Rabbinerin Gesa Ederberg  24.03.2023

Talmudisches

Urteile, die zum Himmel schreien

Was unsere Weisen über die Gerichtsbarkeit in der Stadt Sodom lehrten

von Yizhak Ahren  24.03.2023

Interview

»Unser Einfluss wird größer«

Ilana Epstein über die Rolle der Rebbetzin, Veränderungen und ein Treffen in Wien

von Imanuel Marcus  23.03.2023

Debatte

Für die Freiheit des Glaubens

Moskaus früherer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt sprach in Berlin über die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für das jüdische Leben in Europa

von Gernot Wolfram  23.03.2023

Konferenz

Rat für Ratgeberinnen

Rebbetzins aus ganz Europa tauschten sich in Wien über ihre Herausforderungen im Alltag aus

von Stefan Schocher  23.03.2023

Technologie

Beten mit Handy

Warum spezielle Apps viel mehr sein können als Siddurim auf dem Smartphone

von Chajm Guski  21.03.2023