Joweljahr

Längere Knechtschaft

»Wenn dir eine Hebräerin verkauft wird, (...) so sollst du sie im siebten Jahr in die Freiheit entlassen« (2. Buch Mose 15,12). Foto: Thinkstock

Das unverhoffte Zeichen (hebräisch: Remes) steckt gleich im Anfang: »Behar Sinai« – »auf dem Berg Sinai«. Wir lesen: »Und der Ewige sprach zu Mosche auf dem Berg Sinai« (3. Buch Mose 25,1).

Warum muss betont werden, dass die nun folgenden Bestimmungen auf dem Berg Sinai übermittelt worden sind? Konnte das nicht vorausgesetzt werden – wie auch all die anderen Mizwot auf dem Berg Sinai empfangen wurden? Das Zeichen lässt den Zweifel ahnen. Vielleicht kamen die Bestimmungen dieses Abschnitts erst später hinzu, und es musste betont werden, dass auch sie zur »Tora miSinai« gehörten.

Es geht um die Gesetze für das Joweljahr. Wir sind geneigt, den Abschnitt als einen Höhepunkt menschlicher Freiheitsvorstellungen zu lesen: »Und ihr sollt das 50. Jahr weihen und im Land Freiheit ausrufen für alle seine Bewohner; ein Jowel ist es, soll es euch sein, es kehre ein jeder von euch zu seinem Besitz zurück, ein jeder von euch kehre zu seiner Familie zurück« (25,10).

Omerzeit Die Parascha passt gut in die Omerzeit, in der wir uns gerade befinden. Der Auszug aus der ägyptischen Sklaverei ist vollzogen. Wir zählen 49 Tage, am 50. Tag werden wir Schawuot feiern. Da weist der Abschnitt über das Jowel in genau die richtige Richtung: Freiheit alle 50 Jahre!

Aber Halt! Sollten die Sklaven nicht schon nach sieben Jahren freigelassen werden? Im 2. Buch Mose steht doch: »Wenn du einen hebräischen Knecht kaufst, so soll er sechs Jahre dienen, im siebenten aber unentgeltlich in die Freiheit entlassen werden« (21,2). Und im 5. Buch Mose stehen die Bestimmungen zum Schmittajahr alle sieben Jahre ganz klar im Zusammenhang mit dem Schuldenerlass und der Freilassung der Sklaven: »Nach Verlauf von sieben Jahren sollst du einen Erlass eintreten lassen. (…) Jeder Schuldherr soll das Darlehen, das er seinem Nächsten geliehen hat, erlassen« (15, 1–2) – »Wenn ein Hebräer oder wenn eine Hebräerin, wenn dein Bruder dir verkauft wird, so soll er dir sechs Jahre dienen, im siebten Jahre aber sollst du ihn in die Freiheit entlassen« (15,12).

Warum aber gilt im 3. Buch Mose in der Parascha »Behar« zwar alle sieben Jahre ein Schabbatjahr für das Land, doch die Freilassung der Sklaven nur noch alle 50 Jahre?

Entwicklung Lange hat man gemeint, die Reihenfolge der fünf Bücher Mose entspreche ihrer historischen Entwicklung. Das 3. Buch, das wir gerade lesen, steht in der Mitte. Bibelwissenschaftler zweifeln jedoch daran, ob es historisch vor dem 2. und 5. Buch entstanden ist. Möglicherweise wurden seine Bestimmungen, oder zumindest Teile davon, erst später in den Kanon der Tora aufgenommen. Das Label »Behar Sinai« soll jedoch versichern, dass die Gesetze zum Schabbat- und Joweljahr genau wie die Gesetze in den anderen Büchern der Tora ebenfalls schon damals am Sinai übermittelt worden sind.

Wenn das stimmt, hätte es erst eine idealistischere Sicht gegeben, wonach die Sklaven alle sieben Jahre freigelassen werden sollten. Diese Sicht hat sich möglicherweise in der gesellschaftlichen Praxis als unrealistisch herausgestellt. Deshalb hielt man zwar an dem obersten Prinzip der Freiheit fest, konnte aber die konkrete Freilassung der Sklaven nur noch alle 50 Jahre in Aussicht stellen. Jede Generation hätte eine solche Freilassung nur einmal, maximal zweimal im Leben miterlebt.

Auch der Schuldenerlass ist zumindest in Bezug auf die Schuldknechtschaft im Abschnitt »Behar« nicht mehr gewährleistet. Statt dass die Schulden einfach von oben für ungültig erklärt werden, enthält der Abschnitt nur noch Ermahnungen an die eventuell vermögenderen Verwandten, ihren Bruder aus der Schuldknechtschaft freizukaufen.

Für die hebräischen Sklaven sollte es keine Garantie einer Freilassung nach sieben Jahren geben. Der Abschnitt Behar appelliert lediglich an ihre Besitzer, sie »nicht wie Sklaven« zu behandeln: »Wenn dein Bruder neben dir verarmt und sich dir verkauft, so sollst du ihm nicht Sklavenarbeit auferlegen. Wie einen Tagelöhner, wie einen Beisassen sollt du ihn behandeln; bis zum Joweljahr soll er bei dir arbeiten. Dann soll er mit seinen Kindern von dir wegziehen und zu seiner Familie zurückkehren, zum Besitz seiner Väter soll er zurückkehren« (3. Buch Mose 25, 39–41).

Geblieben ist fast nur noch das Prinzip selbst – dass niemand volle Verfügungsgewalt über einen anderen Menschen besitzt, weil alles Gott gehört, das Land genauso wie die Sklaven: »Denn meine Knechte sind sie, die ich aus dem Land Ägypten geführt habe. Sie dürfen nicht wie Sklaven verkauft werden. Du sollst nicht mit Härte über ihn herrschen; fürchte dich vor deinem Gott!« (25, 42–43).

Was ist geschehen, dass es zu so einer Transformation kommen konnte? Die im Wochenabschnitt Behar durchscheinenden veränderten gesellschaftlichen Bedingungen geben Aufschluss. Es geht in dieser Parascha nicht nur um das Joweljahr, sondern auch um das Schabbatjahr des Landes. Weiterhin gilt alle sieben Jahre ein Brachjahr, wie es bereits im 2. Buch Mose festgelegt ist (23, 10–11).

Doch seitdem hat sich die Gesellschaft beziehungsweise die Wirklichkeit des Landes grundlegend geändert. Nicht mehr so sehr die Stämme verfügen über das Land, sondern individuelle Eigentümer. Wenn ein Israelit verarmte und deswegen Land verkaufen musste, sollte dieses nicht mehr automatisch an den Stamm zurückfallen. Vielmehr wird im Abschnitt Behar der nächste Verwandte aufgefordert, das Land zurückzukaufen, sofern sein persönliches Vermögen hierzu ausreichte. Sollte das aber nicht gelingen, »so bleibt das von ihm (dem Verarmten) Verkaufte in der Hand des Käufers bis zum Joweljahr. Im Joweljahr wird es frei, und er kehrt zu seinem Besitz zurück« (3. Buch Mose 25,28).

Noch ein weiteres Phänomen zeigt den gesellschaftlichen Wandel: die Entwicklung der Städte. Wer ein Haus in einer Stadt erwirbt, erhält nach einem Jahr ein ewiges Eigentumsrecht – »so bleibt das Haus in der ummauerten Stadt auf ewig Eigentum des Käufers und seiner Nachkommen; es wird im Joweljahr nicht frei« (25,30).

freiheit Der Abschnitt Behar enthält also – als Lektüre in der Omerzeit, die noch ganz im Zeichen des Auszugs in die Freiheit steht – eine ambivalente Botschaft. Gesellschaftlich gesehen, verwirklicht sich hier die Freiheit nicht mehr mit derselben Emphase wie der Aufbruch, den wir an Pessach feierten.

Die Tora beschreibt im 2. Buch Mose die vielen Unwegsamkeiten anhand der 49 Omertage nach dem Auszug aus Ägypten bis zum Empfang der Tora »auf dem Berg Sinai«. Spätere Generationen brauchten eine Zeitspanne von 50 Jahren, um die Bestimmungen der Tora nicht nur als schöne Prinzipien hochzuhalten, sondern ihre Machbarkeit umzusetzen.

Hier ist in einem erstaunlich pragmatischen Abschnitt viel über die Bemühungen der Menschen ausgesagt, an der »Tora miSinai« festzuhalten, auch wenn es in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Korrekturen bedurfte. Entscheidend ist, dass diese Korrekturen an die Tora geknüpft wurden, die auf dem Berg Sinai empfangen wurde – wie auch die kommenden jüdischen Generationen in jeder neuen Wirklichkeit die Verbindung zur Tora wiederherstellten. Auch wir heute.

Die Autorin ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Behar führt das Erlass- und das Joweljahr ein. Das Erlassjahr, auch Schabbatjahr genannt, solle alle sieben Jahre sein, das Joweljahr alle 50 Jahre. Die Tora fordert, dass der Boden des Landes Israel einmal alle sieben Jahre landwirtschaftlich nicht genutzt werden darf, sondern brachliegen muss. Dies geschehe »dem Ewigen zu Ehren«. Im Joweljahr solle alles verkaufte Land an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden, die es erhielten, als das Land nach der Eroberung verteilt wurde (Jehoschua 13, 7–21). Außerdem müssen im Joweljahr alle hebräischen Sklaven freigelassen werden.
3. Buch Mose 25,1 – 26,2

Essay

Die gestohlene Zeit

Der Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch die Möglichkeit, die Zukunft zu planen, schreibt der Autor Benjamin Balint aus Jerusalem anlässlich des Feiertags Simchat Tora

von Benjamin Balint  23.10.2024

Bereschit

Höhen und Tiefen

Sowohl Gut als auch Böse wohnen der Schöpfung inne und lehren uns, verantwortlich zu handeln

von Rabbinerin Yael Deusel  23.10.2024

Simchat Tora

Untrennbar verwoben

Können wir den Feiertag, an dem das Massaker begann, freudig begehen? Wir sollten sogar, meint der Autor

von Alfred Bodenheimer  23.10.2024

Deutschland

Sukkot in der Fußgängerzone

Wer am Sonntag durch die Bonner Fußgängerzone lief, sah auf einem zentralen Platz eine Laubhütte. Juden feiern derzeit Sukkot auch erstmals öffentlich in der Stadt - unter Polizeischutz

von Leticia Witte  20.10.2024

Laubhüte

Im Schatten Seiner Flügel

Für die jüdischen Mystiker ist die Sukka der ideale Ort, um das Urvertrauen in Gʼtt zu stärken

von Vyacheslav Dobrovych  16.10.2024

Freude

Provisorische Behausung

Drei Wände und ein Dach aus Zweigen – selbst eng gedrängt in einer zugigen Laubhütte kommt an Sukkot feierliche Stimmung auf

von Daniel Neumann  16.10.2024

Chol Hamoed

Körperlich herausfordernd

Warum das Buch so gut zu Sukkot und seinen Mizwot passt

von Rabbiner Joel Berger  16.10.2024

Talmudisches

Gericht und Reue

Was unsere Weisen über das Fasten an Jom Kippur und die Sünden zwischen den Menschen lehrten

von Vyacheslav Dobrovych  15.10.2024

Berlin

Zu Besuch in Deutschlands einzigem koscheren Hotel

Ilan Oraizers King David Garden Hotel ist ein Unikum in der Bundesrepublik

von Nina Schmedding  13.10.2024