Theater

Konflikte auf der Bühne

Haman (l.) und König Ahaschwerosch: Purimspiel in der Jüdischen Gemeinde Dresden Foto: Steffen Giersch

Chanukka liegt gerade hinter uns. Das nächste Fest ist Purim, aber bis dahin vergehen noch ein paar Wochen. Beide Feste werden gern genutzt, um mit Kindern Aufführungen zu gestalten. Schon die Kleinsten sind stolz, eines der Chanukkalichter darzustellen, und Jugendliche übernehmen im Purimspiel gern anspruchsvolle Rollen als Esther, Mordechai, Haman oder Waschti.

Wer einen genauen Blick auf unsere heutige Parascha und auf die ganze Josefsgeschichte wirft, der sieht, dass hier eigentlich ein Stück auf seine Aufführung wartet, das vielleicht tiefer schürft und uns stärker bewegt als Chanukkawunder und Purimspiel. Beide sind späte Feste (Chanukka ist sogar nachbiblisch), die jeweils die nationale, die kollektive Rettung des jüdischen Volkes feiern. In der Geschichte von Josef und seinen Brüdern aber gibt es keine einfache Orientierung, kein gutes »Wir« gegen ein böses »die Anderen«. Es ist ein Konflikt unter Geschwistern, eine Erzählung von Hass und Liebe, von Verrat und Treue, von Trennung und Versöhnung.

gefühle Das »Josefsspiel« könnte wie der Faust mit einem Vorspiel beginnen. Aus der Überblicksperspektive nämlich dient die Josefsgeschichte vor allem dazu, zu erklären, warum das Volk Israel aus Ägypten gerettet werden muss, obwohl Gott doch unsere Erzeltern schon ins Land Israel geführt hatte. Solch eine Perspektive aber, fern der Gefühle der Beteiligten, ist das genaue Gegenteil dessen, was hier passiert.

Die erste Hauptfigur ist Josef, der eine erstaunliche Entwicklung durchmacht. Vom verwöhnten Lieblingskind, das seine Brüder derart reizt, dass sie ihn unbedingt loswerden wollen, wird er zum ägyptischen Gefangenen. Vom Gefangenen steigt er auf zur rechten Hand Pharaos und herrscht in dessen Namen über ganz Ägypten. Als eine Hungersnot seine Brüder dazu treibt, in Ägypten nach Nahrung zu suchen – nur der alte Vater Jaakov und der kleine Benjamin sind zu Hause geblieben –, findet sich Josef plötzlich in der Situation wieder, es ihnen nach langen Jahren heimzuzahlen.

Josef versucht seine Brüder: Er schafft eine Situation, in der sie ganz unschuldig – da von Pharaos Vertreter dazu gezwungen – auch ihren Bruder Benjamin loswerden könnten. Benjamin ist wie Josef ein Sohn von Jaakovs Lieblingsfrau Rachel und, wie früher Josef, der erklärte Liebling des Vaters. So könnten die Brüder das zweite Mal Papas Liebling nach Ägypten schicken, und nur Josef weiß, dass Benjamin dabei nichts Schlimmes passieren würde.

Die anderen Brüder bleiben hier blass und treten im Kollektiv auf wie ein – allerdings stummer – griechischer Chor. Nur Ruwen war zu Anfang der Josefsgeschichte hervorgetreten, als er mit dem Vorschlag, Josef in eine Grube zu werfen, dessen sofortige Ermordung verhinderte. So auch Jehuda, der vorschlug, Josef als Sklave zu verkaufen und so seinen Tod in der Grube verhinderte. Jetzt ist Jehuda der Wortführer unter den Brüdern und erklärt sich sogar bereit, im Tausch für Benjamin als Geisel in Ägypten zu bleiben. Jehuda hatte Josefs Tod verhindert, nun riskiert er sein eigenes Leben, um das Leben seines Bruders Benjamin und ihres Vaters Jaakov zu retten.

bevorzugung Obwohl er erst ganz zum Schluss in Ägypten erscheint, ist Jaakov doch Josefs eigentlicher Verhandlungspartner. Jaakov schafft es schließlich, über seinen Schatten zu springen. So war er nach jahrzehntelanger Abwesenheit mutig auf seinen Bruder Esau zugegangen und hatte damit zum ersten Mal die fatale Generationenfolge von Bevorzugung des einen Kindes vor dem anderen durchbrochen.

Jaakov stand auch ganz deutlich im Fokus seiner Söhne. Sie wollten ihm kein Leid antun, sie wollten ihn schonen. Gerade für Jaakov kam es auch zum Happy End. Er hatte die beiden Söhne seiner geliebten Rachel wieder. Er hatte genug Futter für die Tiere und Essen für die Menschen.

Ein Weiteres soll nicht verschwiegen werden. Der Pharao und sein Hof hatten nicht nur Josef als Regierung über das Land gesetzt, sondern ehrten nun Jaakov allen voran als ehrwürdigen Vater Josefs. Dass es in der Tora neben einem bösen und judenfeindlichen Pharao, wie wir ihn beim Exodus erleben, auch einen guten und judenfreundlichen Pharao gibt, entspricht der ganzen Tendenz dieser Josefsgeschichte, die alte Feindschaften nicht fortsetzt, sondern immer versucht, sie zu überwinden.

versöhnung Was lernen die Figuren, was lernen wir? In der Josefsgeschichte geht alles gut aus – wenn auch manchmal erst Jahrzehnte später. Keinesfalls ist die Geschichte langweilig, denn bis kurz vor dem Schluss bleibt offen, wie sie endet. Alle Beteiligten müssen über ihren Schatten springen. Doch keiner mehr als Josef. Seine Brüder sind ihm ausgeliefert. Schließlich aber kann er sich nicht mehr zurückhalten, schickt alle Fremden aus dem Raum und sagt seinen Brüdern: »Ich bin Josef, lebt mein Vater noch?« Dies führt zur tränenreichen Versöhnung.

Die Darsteller eines solchen »Josefsspiels« und auch wir Zuschauer können einiges lernen: Probleme und Konflikte haben oft tief sitzende Ursachen, die möglicherweise auf Ereignisse zurückgehen, die wir nicht nur nicht beeinflussen können, sondern die vor unserer Geburt lagen. Um diese Konflikte zu lösen, bedarf es nicht nur des guten Willens. Man muss auch bereit sein, Risiken einzugehen, sich verletzbar zu machen und Fehler zuzugeben.

Schließlich bezeugt diese Geschichte von Josef, dass Gutes Gutes gebiert. Wer Gutes tut, dem geschieht auch eher Gutes.

Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajigasch erzählt davon, wie Jehuda darum bittet, anstelle seines jüngsten Bruders Benjamin in die Knechtschaft zu gehen. Später gibt sich Josef seinen Brüdern zu erkennen und versöhnt sich mit ihnen. Der Pharao lädt Josefs Familie ein, nach Ägypten zu kommen, um »vom Fett des Landes zu zehren«. Jaakov erfährt, dass sein Sohn noch lebt und zieht nach Ägypten. Der Pharao trifft Jaakov und gestattet Josefs Familie, sich in Goschen niederzulassen. Josef vergrößert die Macht des Pharao, indem er die Bevölkerung mit Korn versorgt.
1. Buch Moses 44,18 – 47,27

Geschichte

Wer war Kyros der Große?

Manche behaupten, Donald Trump sei wie der persische Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte. Was hinter dem Vergleich steckt

von Rabbiner Raphael Evers  30.10.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 29.10.2025

Vatikan

Papst bedauert Krise im Dialog mit Juden - verurteilt Antisemitismus

Seit Jahren ist der Dialog des Vatikans mit dem Judentum belastet. Nun hat Leo XIV. versucht, die Dinge klarzustellen - mit einem Bekenntnis zum Dialog und gegen den Antisemitismus

von Ludwig Ring-Eifel  29.10.2025

Schwielowsee

Shlomo Afanasev ist erster orthodoxer Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg

Militärrabbiner gibt es bereits in Deutschland. Nun steigt der erste orthodoxe Rabbiner bei der Bundeswehr in Brandenburg ein

 29.10.2025

Rom

Eklat durch NS-Vergleich bei interreligiösem Kongress

Der Dialog zwischen katholischer Kirche und Judentum ist heikel. Wie schwierig das Gespräch sein kann, wurde jetzt bei einem Kongress in Rom schlagartig deutlich. Jüdische Vertreter sprachen von einem Tiefpunkt

von Ludwig Ring-Eifel  27.10.2025

Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Die rätselhafte Geschichte einer Frau zwischen Märtyrertum und Missverständnis

von Yizhak Ahren  24.10.2025

Schöpfung

Glauben Juden an Dinosaurier?

Der Fund der ersten Urzeitskelette stellte auch jüdische Gelehrte vor Fragen. Doch sie fanden Lösungen, das Alter der Knochen mit der Zeitrechnung der Tora zu vereinen

von Rabbiner Dovid Gernetz  23.10.2025

Noach

Ein neuer Garten Eden

Nach der Flut beginnt das Pflanzen: Wie Noachs Garten zum Symbol für Hoffnung und Verantwortung wurde

von Isaac Cowhey  23.10.2025

Rabbiner Noam Hertig aus Zürich

Diaspora

Es geht nur zusammen

Wie wir den inneren Frieden der jüdischen Gemeinschaft bewahren können – über alle Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten hinweg

von Rabbiner Noam Hertig  23.10.2025