Wieso Weshalb Warum

Kol Nidre

Der Begriff »Kol Nidre« ist für viele Juden gleichbedeutend mit dem Vorabend von Jom Kippur. Man sagt nicht, man geht zum Abendgebet, sondern man geht zum Kol Nidre.

Wenn das Kol Nidre nach der traditionellen Melodie rezitiert wird, dann ist es zunächst ein leiser Text, der immer intensiver wird. Bei der dritten und letzten Wiederholung kann dem Zuhörer die Melodie buchstäblich durch Mark und Bein gehen. Man erlebt einen der Höhepunkte von Jom Kippur gleich zu Beginn des Feiertags. Schon allein deswegen ist das Kol Nidre auch jenen bekannt, die nur an den Hohen Feiertagen in die Synagoge gehen. Das Kol Nidre ist kein Gebet, sondern es ist dem Abendgebet von Jom Kippur, mit einigen anderen Formeln, vorangestellt.

Versprechungen Kol Nidre ist eine juristische Formel in aramäischer Sprache, mit der sich der Einzelne von den Gelübden (Nedarim) lossagt, die er im vergangenen Jahr G’tt gegenüber getan hat. In der antisemitischen Propaganda wurde oft behauptet, Juden sprächen sich mit dieser Formel von allen Versprechungen und Verträgen frei. Doch tatsächlich ist mit »Neder« nur ein Versprechen gegenüber G’tt gemeint. Man könnte also sagen, man bereut, was man sich für das vergangene Jahr vorgenommen und dann doch nicht gehalten hat.

Schon der Talmud beschreibt eine solche Befreiung von Gelübden (Nedarim 23a) – allerdings für den Tag vor Rosch Haschana. So gibt es in vielen Machsorim für den Vorabend des Neujahrsfests eine »Hatarat Nedarim« (Aufhebung der Gelübde), die man vor drei »Richtern«, drei Männern aus der Gemeinde, spricht. Es ist denkbar, dass dies auf den Vorabend von Jom Kippur verlegt worden ist – vielleicht weil es der Abend ist, an dem besonders viele Menschen in die Synagoge kommen.

Gericht Die Formel »Kol Nidre« spricht man, bevor das eigentliche Gebet beginnt. Die Synagoge verwandelt sich in einen Gerichtssaal: Drei Männer stehen vor der Gemeinde. Sie bilden eine Art Gericht und sprechen zunächst eine andere Formel. Die erlaubt es denjenigen, denen man die Teilnahme an Gemeindeaktivitäten bisher versagt hat, wieder mitzubeten.

Vielleicht wird deshalb gern erzählt, das Kol Nidre stamme aus der Zeit, in der in Spanien Juden zur Konversion zum Christentum gezwungen wurden. Mit dieser Formel sprachen sich diejenigen frei, die nun doch wieder zum Judentum zurückkehren wollten. Vielleicht hatte das Gebet in dieser Zeit diese Funktion. Tatsächlich aber ist es schon viel älter und wird bereits im Gebetbuch des Amram Ga’on aus dem 9. Jahrhundert erwähnt.

quelle Aus der gleichen Zeit sind auch rabbinische Stimmen gegen dieses Gebet überliefert. Selbst derjenige, der es für die Nachwelt als erste nachweisbare Quelle festgehalten hat, der Amram Ga’on, nannte es einen »unsinnigen Brauch«. Die vorangestellte Formel, die auch ausgestoßene Juden miteinbezieht, stammt vermutlich von Rabbi Meir von Rothenburg (1220–1293).

Im 12. Jahrhundert änderte Rabbi Ja’akow Tam den Text des Kol Nidre, sodass er sich auf Gelübde im kommenden Jahr bezieht. Wir finden deshalb in heutigen Gebetbüchern zwei Varianten. Dass das Kol Nidre dem Gebet vorangestellt wird, unterstreicht einen wichtigen Aspekt von Jom Kippur: Es ist das Ende eines Gerichtsprozesses, der an Rosch Haschana begonnen hat. An Jom Kippur wird gebetet, aber wir stehen auch vor Gericht. Etwa 25 Stunden nach dem Kol Nidre, beim Abschlussgebet, der »Ne’ila«, wird dann das Urteil gesprochen.

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025