Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

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Das vierte Buch der Tora, Bamidbar, beginnt mit der wiederholten Zählung des jüdischen Volkes. Die Tora berichtet, dass Mosche, nachdem er das Volk Israel gezählt hatte, den Stamm Levi interessanterweise separat erfasste. Die Leviim, die Leviten, wurden – im Gegensatz zu allen anderen Stämmen – ab einem Alter von einem Monat gezählt; es waren 22.000 Männer.

Nachmanides, der Ramban (1194–1270), stellt eine grundlegende demografische Frage: Die männliche Bevölkerung des Stammes Levi, der ab dem Alter von 30 Tagen gezählt wurde, betrug weniger als die Hälfte des nächstkleineren Stammes, obwohl alle übrigen Stämme erst ab einem Alter von 20 Jahren und nur bis 60 Jahren gezählt wurden. Das ist eine gewaltige Diskrepanz. Warum gab es so wenige Leviim im jüdischen Volk?

Der Ramban sagt, dies bestätige die Lehre unserer Weisen zum Vers: »So wie sie (die Ägypter) sie (die Juden) verfolgten, so vermehrten sie sich und breiteten sich aus« (2. Buch Mose 1,12). Je mehr die Ägypter versuchten, uns durch ihre Knechtschaft und Verfolgung zu unterdrücken, desto mehr segnete uns G’tt und schenkte den jüdischen Frauen Mehrlingsgeburten, was zu einer Bevölkerungsexplosion unter den Kindern Israels führte.

Der Stamm Levi war frei von Arbeit und Verfolgung

Die Weisen sagen, dass der Stamm Levi nicht der Knechtschaft der Sklaverei unterworfen war. Sie waren frei von Arbeit und Verfolgung, welche die anderen Stämme erlitten. Da sie also nicht von der Verfolgung betroffen waren, waren sie auch nicht vom Segen der vermehrten Geburten betroffen – folglich war ihre Gesamtzahl am Ende der ägyptischen Sklaverei viel kleiner als die der anderen Stämme.

Der Or Hachaim, Rabbi Chaim ben Mosche ibn Attar (1696–1743), zitiert den Ramban, ist jedoch mit seinem Kommentar nicht einverstanden. Er bietet seine eigene und sehr originelle Antwort an. Dabei verweist er auf den Talmud, in dem zu lesen ist, dass Amram sich von seiner Frau scheiden ließ, nachdem er nur zwei Kinder, Mirjam und Aharon, hatte. Seine Begründung dafür war, dass er angesichts der düsteren Lage der Juden in Ägypten, wo jüdische Söhne damals nach der Geburt in den Nil geworfen wurden, keine weiteren Kinder in die Welt setzen wollte.

Amram war der Anführer der Generation, der Gadol Hador. Er war auch das Oberhaupt des Stammes Levi. Als seine Stammesgenossen sahen, dass er sich von seiner Frau scheiden ließ, trennten auch sie sich von ihren Frauen. Obwohl die Gemara besagt, dass Amram es sich anders überlegte und seine Frau Jocheved erneut heiratete, weist der Or Hachaim darauf hin, dass die anderen Leviim seinem Beispiel nicht mehr folgten und von ihren Frauen getrennt blieben.

Der Or Hachaim liefert eine Begründung für ihre Motivation: Dem Stamm Levi ging es in Ägypten relativ gut. Sie waren nicht denselben Schrecken und demselben unsäglichen Leid ausgesetzt wie die übrigen Juden. Folglich schätzten sie ihr Leben im Allgemeinen. Insofern konnten sie den Gedanken einfach nicht ertragen, Kinder zu bekommen, nur damit diese dann im Nil ertränkt oder ausgesetzt werden sollten – wie es bei Amrams drittem Kind, Mosche, der Fall war.

Hingegen hatten die anderen Juden schon so viel gelitten, dass sie sich irgendwie mit dem Gedanken abfanden. Sie waren derart unterdrückt und deprimiert, dass sie das Leben beinahe für wertlos hielten. Folglich erschien ihnen die Tatsache, dass ihnen ihre Kinder genommen werden, fast selbstverständlich und hielt sie daher nicht davon ab, weitere zur Welt zu bringen. Sie schätzten das Leben so wenig, dass sie nicht wie die Leviim entsetzt vor dem Gedanken zurückschreckten, was mit ihren Kindern geschehen könnte.

Auch heute wird in manchen Ländern das Leben nicht so wertgeschätzt

Der amerikanische Rabbiner und Autor Yissocher Frand merkt dazu an, dass auch heutzutage in manchen Ländern der Welt das Leben nicht so wertgeschätzt wird wie in den Ländern der westlichen Zivilisation, der freien Welt. In Amerika, Europa und in Israel herrscht glücklicherweise die allgemeine Auffassung, dass jedes Leben unendlich wertvoll ist.

Die Leviim wollten also keine Kinder zur Welt bringen. Sie fragten, warum sie Kinder zeugen sollten, wenn sie doch dann leiden oder sogar ermordet werden würden.

Die übrigen Israeliten, die selbst ein unerträgliches Leben führten, hatten weniger Furcht vor der Vorstellung, Kinder zur Welt zu bringen, die selbst ein elendes Schicksal erleiden würden. Das ist eine verblüffende Vorstellung. Aber wenn wir uns vor Augen führen, wie der Wert des Lebens in anderen Teilen der Welt erachtet wird, glaube ich, dass wir sie verstehen können.

Der Stamm Levi hatte deutlich weniger Kinder als die anderen Stämme

Infolge dieses Phänomens, so schreibt der Or Hachaim, hatte der Stamm Levi deutlich weniger Kinder als die restlichen versklavten Stämme.

Bevor ich diesen Kommentar las, konnte ich viele Phänomene nicht nachvollziehen. Ich konnte beispielsweise nicht verstehen, wie sich jemand einen Sprengstoffgürtel umbinden und freiwillig zum Selbstmordattentäter werden konnte.

Ich konnte nicht verstehen, wie ein Herrscher Hunderttausende in den Tod schicken kann – mit der Begründung, dass es für sie besser sei, im Krieg als Kämpfer zu sterben, anstatt sinnlos zu Hause mit einer Wodkaflasche unter dem Tisch zu verrecken.

Ich konnte nicht verstehen, wie man bereit sein kann, sich selbst und Tausende andere Menschen zu opfern, nur um einem anderen Land und seiner Bevölkerung zu schaden. Doch vor allem verstand ich nicht, wie Menschen das ohne großen Widerstand hinnehmen und sich sogar zum Teil dafür begeistern konnten – mit dem Wissen, dass auch ihr Leben und das ihrer Liebsten auf dem Spiel steht.

Der Kommentar des Or Hachaim hilft uns, diese Phänomene in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Denn wenn das Leben nicht wirklich lebenswert ist und wenn es sich in eine reine Existenz verwandelt, fällt es einem wohl leichter, sich von diesem kostbaren Geschenk zu trennen – und auch den Verlust der Nächsten hinzunehmen.

Der Autor ist Gemeinderabbiner der Synagogengemeinde Konstanz.

inhalt
Am Anfang des Wochenabschnitts Bamidbar steht die Zählung aller wehrfähigen Männer, mit Ausnahme der Leviten. Sie sind vom Militärdienst befreit und nehmen die Stelle der Erstgeborenen Israels ein. Ihnen wird der Dienst im Stiftszelt übertragen. Bei ihnen soll von nun an jeder Erstgeborene ausgelöst werden. Zudem wird geregelt, welche Familien für den Auf- und Abbau des Stiftszelts verantwortlich sind.
4. Buch Mose 1,1 – 4,20

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