Manche Interpretationen von biblischen Worten führen seit Langem eine Art selbstständiges Dasein, das vom ursprünglichen Sinn mehr oder weniger abgekoppelt ist. Grund dafür ist nicht nur der wechselnde Zeitgeist, sondern auch die Sprache. Die meisten Menschen kennen die biblischen Botschaften in Übersetzungen, die nicht immer dem hebräischen Original genau entsprechen.
In der Regel kennt man nur einzelne gebräuchliche Zitate, die aus ihrem logischen, sprachlichen und historischen Zusammenhang herausgerissen sind. Zu einem solchen populären Spruch ist auch das biblische Gebot der Nächstenliebe mutiert, das in seiner lutherischen Übersetzung »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« bekannt ist.
In der Tora heißt es auf Hebräisch: »We-ahavta le-reacha kamocha«.
Der hebräische Wortlaut ist »we-ahavta le-reacha kamocha« (3. Buch Mose 19,18); die möglichst genaue Übersetzung dieser drei Worte wäre: »Und du wirst deinen Nächsten/Nachbarn lieben, er ist wie du«. Das biblische Hebräisch ist eine äußerst kompakte Sprache, die zwar verschiedene Deutungen erlaubt, dennoch aber gerade im Kontext eine erstaunliche Präzision aufweist. Das Gebot ist in eine Passage eingebettet, die die zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Gemeinschaft regelt.
ISRAELITEN Im Gegensatz zum heutigen Verständnis dieses Gebots im Sinne einer allgemeinen Menschenliebe bezieht es sich ausdrücklich auf die Mitglieder der Gemeinschaft der Israeliten, die als Nachbarn bezeichnet sind, und zwar speziell im Hinblick auf Konfliktsituationen.
Die Tora verlangt nicht, die ganze Menschheit zu lieben, es geht lediglich darum, dass die Konflikte zwischen den Menschen, die in einem Gemeinwesen zusammenleben und deren Interessen daher unvermeidlich immer wieder miteinander kollidieren, zivilisiert und möglichst ohne bleibende Schäden gelöst werden.
Allerdings setzt dies eine bewusste Anstrengung voraus: Es ist in jedem Fall leichter, die ganze Menschheit zu lieben, als seinen Zorn gegen einen konkreten Nachbarn zu bändigen oder einem Konkurrenten freundlich und vorurteilslos zu begegnen. Für das Zusammenleben der Menschen ist ein solches Gebot jedoch viel bedeutsamer als edle, aber abstrakte Empfindungen, die nichts kosten, in der Regel aber auch keine praktischen Auswirkungen haben.
KONFLIKTE Traditionell wurde den Juden vorgeworfen, dass sie sich in ihrem Liebe-Verständnis ausschließlich auf die eigene ethnisch-religiöse Gemeinschaft beschränken und keine universellen moralischen Vorstellungen kennen, während die christliche Liebe allumfassend sei. Wie man bereits erkennen kann, hat das hebräische Wort »ahavta« – »du wirst lieben« – wenig mit dem abstrakten Empfinden der Menschenliebe gemein. Es ist vielmehr sehr praktisch und konkret als Mittel der Konfliktprävention ausgelegt.
Die Tora erwartet also nichts Unrealistisches, keine Selbstaufopferung für andere Menschen oder deren Beglückung, vielmehr sagt sie: Auch wenn du auf die Menschen, mit denen du zu tun hast, sauer bist, sei nicht gemein, gewalttätig, betrügerisch oder jähzornig und komme nicht auf die Idee, Selbstjustiz zu üben. Ihr lebt schließlich zusammen, und es ist in eurem gemeinsamen Interesse, nett und fair zueinander zu sein.
Wer ist aber dieser »reach« – Nachbar oder »Nächste«? In der Tat sieht es zunächst so aus, dass im Gebot im 3. Buch Mose 19,18 ausschließlich israelitische Volksangehörige (»Kinder deines Volks«) gemeint sind. Es wird aber bereits ein paar Zeilen weiter durch den Vers 3. Buch Mose 19,34 ergänzt, in dem es um den »Fremdling« geht. Das Liebesgebot wird hier wörtlich wiederholt: »ahavta lo kamocha« (»Du wirst ihn lieben, er ist wie du«). Heißt es also, dass das biblische Gebot tatsächlich universell ist und letztlich die gesamte Menschheit – die »Nächsten« wie die »Fremden« – einbezieht?
»FREMDE« Das biblische Hebräisch kennt verschiedene Bezeichnungen für »Fremde«, die nicht zum Volk Israel gehören. In dieser Passage wird das Wort »ger« (Plural: gerim) benutzt. Damit wurden Ausländer bezeichnet, die mitten in der israelitischen Gesellschaft lebten und nicht nur vollständig integriert, sondern zum Teil auch zum Judentum konvertiert waren. Somit wird der Sinn des Gebots zusätzlich präzisiert:
Es betrifft nicht nur Mitglieder der eigenen ethnisch-religiösen Gemeinschaft, sondern alle, die die gemeinsamen kulturellen und ethischen Werte anerkennen und in die Gemeinschaft integriert sind. Somit nimmt die Tora gewissermaßen den modernen Begriff der Nation vorweg, der sich im Gegensatz zu anderen Gemeinschaften nicht ethnisch oder religiös, sondern primär kulturell und ethisch definiert.
Zu einer solchen Gemeinschaft gehören Menschen, die – unabhängig von ihrer Abstammung – die kulturellen Traditionen und die gemeinsamen Werte teilen. Dennoch ist es eine klar eingegrenzte Gemeinschaft, die nicht beliebig ausgedehnt werden kann. Auch die Bibel kennt Fremde, die im Gegensatz zum »ger« nicht zur Gemeinschaft gehören: Es ist »nakri«, ein Fremder, der keinen Sonderstatus mit besonderem Schutz genießt, oder »sar«, als zumeist feindlich gesinnter Ausländer.
Der biblische »Fremdling« im Liebesgebot ist also keineswegs jeder Fremde, sondern lediglich ein »Nachbar« von nicht-israelitischer Abstammung.
Bereits in der frühen nachbiblischen Zeit wurde im jüdischen Denken das Gebot der Nächstenliebe, das nicht zum Dekalog – den wichtigsten zehn Geboten der Tora – gehörte, aus seinem Kontext herausgegriffen und als ethische Grundlage von allgemeiner Bedeutung interpretiert. Entsprechend den universalistischen Tendenzen jener Zeit wurde dieses Gebot von Gelehrten wie Hillel oder Akiva als das wichtigste Tora-Gebot überhaupt überhöht.
Das Gebot regelte das Zusammenleben und predigte nicht grenzenlose Menschenliebe.
Nach einer bekannten talmudischen Geschichte bezeichnete Hillel die Nächstenliebe als Quintessenz der gesamten Tora: »Was dir selbst zuwider ist, das tue deinem Nächsten nicht an. Das ist die Tora ganz und gar, alles andere ist ihre Auslegung« (Babylonischer Talmud, Schabbat 31a).
»GOLDENE REGEL« Auch wenn es hier, genauso wie im 3. Buch Mose 19,18, nicht um Wohltaten, sondern um die Vermeidung von Missetaten gegenüber dem »Nächsten« geht, so wiederholt Hillels Formulierung eine ethische Maxime, die damals weithin bekannt war und aus verschiedenen Kulturen überliefert ist. Sie wurde später als »Goldene Regel« bezeichnet.
Die auf die eigene Gemeinschaft beschränkte Forderung der Tora wird hier also universalisiert und als allgemeingültige Regel gedeutet.
Eine weitere Neuerung jener Zeit war die wachsende Bedeutung einer anderen Art von Liebe, die im Hebräischen als »chessed« bezeichnet wird und mit »Wohltätigkeit«, »Barmherzigkeit«, »Gnade« oder »Mitleid« übersetzt werden kann.
Gemeint war vor allem die tätige Liebe zu den Schwachen der Gesellschaft. Die jüdische Überlieferung jener Zeit ist voll mit Geschichten über Großzügigkeit von Reichen, die dafür einen Platz in der kommenden Welt gewinnen.
In der Tora hingegen hatte chessed keine Rolle gespielt, soweit es um zwischenmenschliche Beziehungen ging. Die Versorgung der Bedürftigen, die nicht in der Lage waren, selbst für ihr Auskommen zu sorgen, wurde mit Gesetzen geregelt und gesichert. Sie waren nicht auf Wohltaten angewiesen, sondern hatten einen rechtlichen Anspruch darauf. Dieser soziale Mechanismus funktionierte um die Zeitenwende längst nicht mehr, sodass freiwillige Wohltätigkeit immer wichtiger wurde.
Es ist offensichtlich, dass es sich bei ahava und chessed um zwei völlig unterschiedliche Arten der Begegnung handelt. Während ahava eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen Partnern – unabhängig von ihrem tatsächlichen sozialen Status – impliziert, so bezieht sich chessed auf ein sehr ungleiches Verhältnis: Auf der einen Seite ist der Arme, der Schwache, der Hilfsbedürftige, auf der anderen der Starke, Hilfsbereite und Mächtige. Der Arme ist auf den Gebenden angewiesen und von diesem abhängig, weil dessen Tat freiwillig ist. Einer ist das Objekt der Hilfe, der andere das aktiv handelnde Subjekt.
BEDÜRFTIGE In diesem veränderten geistigen Kontext ist das Wirken von Jesus aus Nazareth zu sehen, der möglicherweise der rabbinischen Schule von Hillel nahestand. Auch Jesus stellt das Gebot der Nächstenliebe neben der Liebe zu Gott als das wichtigste Gebot der Tora heraus. Ebenso wie viele andere jüdische Gelehrte seiner Zeit betont er zudem exzessiv die Rolle von chessed. Deren Bedeutung wird von ihm genauso wie die Gebote der Tora häufig überspitzt und radikalisiert.
Jesus verlangt: »Ebenso kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet« (Lukas 14,33). Er selbst ist ständig von Armen, Kranken und Bedürftigen aller Art umgeben. Chessed wird zur Messlatte für das menschliche Verhalten. Dabei werden die beiden Arten der Liebe aus der hebräischen Bibel – ahava und chessed – völlig miteinander vermengt, sodass in der christlichen Tradition die Nächstenliebe als »Wohltätigkeit« und »Barmherzigkeit« präsent ist.
Ein Inbegriff christlicher Nächstenliebe wurde der barmherzige Samariter.
Die radikalen Forderungen der Lehre Jesu erscheinen dabei nicht mehr als praktische Anweisung für den Alltag, sondern als unerreichbares Ideal, das im normalen Leben nur selten Platz hat. Ein Inbegriff der Nächstenliebe wurde die berühmte Geschichte vom barmherzigen Samariter, obwohl sie eine höchst außergewöhnliche Situation beschreibt, die nach außergewöhnlicher Handlung verlangt.
Bezeichnenderweise ist diese Geschichte vollständig auf den edelmütigen Helfer fokussiert, während über seinen Gegenpart nur zu erfahren ist, dass es »ein Mann« war. Dieser ist in der Geschichte ein völlig hilfloses Wesen, »halb tot«. Seine Eigenschaften sind insofern unwichtig, als er ausschließlich als passives Objekt der Fürsorge fungiert.
In der Tat ist das Objekt der chessed im Grunde ganz und gar austauschbar, wichtig ist nur, dass es hilfsbedürftig ist. Es ist naheliegend, dass sich dafür Menschen am besten eignen, die zu ausgegrenzten, marginalisierten Gruppen gehören und daher keine Chance haben, auf eigenen Beinen zu stehen und somit eine aktive Rolle im Leben zu übernehmen.
Ist für das Ahava-Gebot ausschlaggebend, dass die Begegnung auf Augenhöhe stattfindet – »kamocha«, »er ist wie du« –, so ist die tatsächliche Menschengleichheit für die chessed eher hinderlich. Wenn der Hilfsbedürftige sich aus eigener Kraft versorgen kann, ist er kein Objekt der Wohltätigkeit mehr, sodass auch der Helfende seine Wohltaten nicht mehr vollbringen und sich nicht mehr für das ewige Leben qualifizieren kann. Sogar mehr: Aus dem Bedürftigen wird womöglich ein lästiger Konkurrent, es entsteht somit ein Konfliktpotenzial, das mit chessed nicht gelöst werden kann.
FERNSTENLIEBE Eine solche Situation beschreibt Boris Grundl, ein erfolgreicher deutscher Rollstuhlsportler, Unternehmer und Autor, in seinem Buch Diktatur der Gutmenschen (2010): An einer Institution ist ein neuer Mitarbeiter, ein Rollstuhlfahrer, angestellt. Alle sind nett zu ihm, jeder bietet Hilfe an, die neuen Kollegen sind besonders zuvorkommend und freundlich.
Doch wehe, es stellt sich heraus, dass der Rollstuhlfahrer ein begabter und aufstrebender Fachmann ist. Plötzlich hält ihm niemand mehr die Tür auf, und die Kollegen treffen sich an Orten, zu denen der Rollstuhlfahrer keinen Zugang hat. Er hat die ihm zugedachte Rolle des Hilfsbedürftigen verlassen und ist zum Konkurrenten im Kampf um Fortkommen und Beförderung geworden. So können sich seine Kollegen nicht mehr als überlegene Wohltäter fühlen. Aus der »Nächstenliebe« wird schnell »Nächstenhass«.
»Mein Flüchtling«, hört man von manch einem Wohltäter.
Diese Situation sieht Grundl als paradigmatisch für das Verhalten von »Gutmenschen« an, »die sich auf Kosten der Schwachen Macht und ein gutes Gefühl verschaffen … Gutmenschen fühlen sich nur in einem statischen Umfeld wohl, in dem die Rollen fest verteilt sind. Dazu gehört auch die dauerhafte Festlegung, wer die Schwachen und die Starken zu sein haben … Beim Gutmenschen besteht kein Interesse daran, dass Menschen stark und unabhängig werden. Denn das bedeutet Machtverlust.«
Damit hängt ein Phänomen zusammen, das in jüngster Zeit als »Fremdenliebe« oder »Übernächstenliebe« bezeichnet wurde. Im September 2015 publizierte die »Stuttgarter Zeitung« einen Leitartikel unter dem Titel »Liebe deinen Übernächsten«: »Deutschland redet sich die Armutszuwanderung schön. Viele freuen sich über jeden Flüchtling. … Liebe deinen Nächsten, heißt es in der Bibel, aber der Deutsche hebt seine Gefühle gern für den Übernächsten auf.«
Es handele sich dabei überwiegend um Menschen, die aus verschiedenen Gründen für absehbare Zeit Objekt der staatlichen und privaten Fürsorge bleiben würden. Der »Fremde« wird nicht als ebenbürtiges und selbstverantwortliches Gegenüber wahrgenommen, sondern als minderwertiges Wesen, das man nicht ernst nehmen kann. In privaten Beziehungen zwischen dem Helfer und dem Bedürftigen wird keine Begegnung auf Augenhöhe erwartet: »Mein Flüchtling«, hört man dazu von manch einem Wohltäter.
SCHWÄCHE In unserer Gesellschaft, in der Neid und Missgunst zwischen den »Nächsten« weit verbreitet sind, der Erfolg verpönt ist und die Schwäche kultiviert wird, ist die Flüchtlingswelle für viele eine willkommene Quelle von Gefühlen eigener moralischer Überlegenheit: Man kann sich als barmherziger Samariter fühlen, ohne dass es Einbußen an eigener Lebensqualität oder besondere Aufopferung geben müsste. Unfähig zur Nächstenliebe im biblischen Sinne, pflegen solche Menschen umso mehr ihre »Fremdenliebe«.
In der jüdischen Tradition sind die Selbsterhaltung und die Verantwortung gegenüber der eigenen Existenz und der Existenz der eigenen kulturellen Gemeinschaft die oberste Verpflichtung eines jeden Menschen. Das Gebot der Nächstenliebe wird daher auch als Ahawat Israel – Liebe zum Volk Israel – bezeichnet. Erst das Wissen um die eigenen Wurzeln ermöglicht den Respekt für die ganze Schöpfung und deren Wertschätzung. Die Achtung und Weiterentwicklung des Eigenen wurde im Judentum zur Voraussetzung für den außergewöhnlichen Beitrag der Juden zur Entwicklung der gesamten Menschheit.
Der Autor ist Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar sowie Akademischer Leiter der Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg Potsdam.