Acharej Mot

Kafka und der Hohepriester

Versucht, das verwirrende Gerichtsverfahren gegen ihn zu verstehen: Kyle MacLachlan als Josef K. in dem britischen Spielfilm »Der Prozess« (1993) Foto: imago images/Ronald Grant

Im Wochenabschnitt Acharej Mot wird von Jom Kippur erzählt, dem Versöhnungstag. Dabei wird der Tempeldienst an diesem Hohen Feiertag beschrieben. Denn nur an Jom Kippur darf der Hohepriester, der Kohen Gadol, das Allerheiligste des Tempels betreten und dort das Ketoret-Opfer bringen.

Auf manchen Leser des Wochenabschnitts mag das Prozedere seltsam, absurd, ja kafkaesk wirken. Doch wir können daraus ganz praktische Lebensweisheiten lernen, und es ist interessant, nebenbei auch einen Blick in Franz Kafkas Roman Der Prozess zu werfen.

Das Buch beginnt damit, dass der Pro­tagonist Josef K. eines Morgens verhaftet wird. Sein Frühstück: ein Apfel und Brot, getunkt in Honig. Die Handlung des Buches erstreckt sich über genau ein Jahr.

willenskraft Josef K. versucht einige Male, das verwirrende bürokratische Gerichtsverfahren gegen ihn zu verstehen. Doch die Versuche scheitern an seiner Willenskraft, den Prozess und das Gesetz wirklich verstehen zu wollen, und enden in Frustration. Ein Verwandter empfiehlt Josef K., den Prozess ernst zu nehmen, denn wenn man ihn verlieren sollte, werde man »gestrichen«. Das Buch endet damit, dass Josef K. hingerichtet wird – und »es war, als sollte die Scham ihn überleben«.

Eine Frage, die sich jeder Jude in der einen oder anderen Weise stellt, ist: Inwieweit muss man sich schuldig fühlen, wenn man die Mizwot (Gebote) nicht befolgt, insbesondere, wenn man nicht alle komplizierten Gesetze versteht und kennt?

Ich glaube, dass Franz Kafka genau diese Frage in seinem Roman verarbeitet. Das Buch ist übersät von jüdischer Symbolik. Der Apfel und das Brot, getunkt in Honig, sind eindeutige Merkmale für Rosch Ha­schana, das Neujahresfest, an dem alle Menschen gerichtet werden. G’tt entscheidet an diesem Tag, wer in das Buch des Lebens eingetragen und wer daraus gestrichen wird. Das Urteil ist aber an dem Tag noch nicht besiegelt, und wir haben bis Jom Kippur die Chance, das Urteil noch zu kippen.

parabel Der Bamberger Germanistikprofessor Ulf Abraham hat eine jüdische Vorlage für den bekanntesten Ausschnitt aus Kafkas Roman gefunden: Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz«, auch »Türhüterlegende« genannt. Sie ist eine Umdichtung der kabbalistischen Midrasch-Erzählung in Pesikta Rabbati 20.

Darin steigt Mosche vom Berg Sinai in den Himmel, um die Tora zu empfangen. Dort stößt er auf Engel, einer mächtiger als der andere, welche die Tora bewachen und ihn nicht hineinlassen wollen. Doch Mosche kämpft sich durch und holt sich die Tora mit G’ttes Beistand.

Der Talmud (Schabbat 88b–89a) erklärt die Midrasch-Erzählung etwas zugänglicher: Als Mosche in den Himmel kommt, um die Tora zu holen, beschweren sich die Engel bei G’tt: Wie kann es sein, dass ein Menschensohn aus Fleisch und Blut die heilige Tora bekommt? Bei den Engeln im Himmel ist die Tora doch viel besser aufgehoben!

engel G’tt sagt zu Mosche, er solle den Engeln antworten. Doch Mosche fürchtet sich vor den Engeln und fleht G’tt um Hilfe an. Der Ewige besteht darauf, dass Mosche es selbst mit den Engeln regeln soll. Also diskutiert Mosche mit den Engeln. Es stehe doch in der Tora geschrieben: »Ehre deinen Vater und deine Mutter« – habt ihr Engel etwa einen Vater oder eine Mutter? Es steht in der Tora: »Du sollst nicht morden, nicht ehebrechen und nicht stehlen« – habt ihr etwa einen bösen Trieb?

Schließlich stimmen die Engel G’tt zu, Mosche die Tora zu überreichen, und machen ihm sogar Geschenke. Auch der Engel des Todes gibt ein Geschenk: das Rezept für das heilige Ketoret-Opfer, das sogar vor dem Tod bewahrt.

In Kafkas Version ist der Protagonist »ein Mann vom Lande«. Dies ist eine wörtliche Übersetzung des talmudischen Fachausdrucks »Am Haaretz«. Damit ist ein ungebildeter, ungelernter Mann gemeint – das Gegenteil von Mosche.

Dementsprechend scheitert der »Mann vom Lande« schon am ersten Türhüter, der dem Mann sein Leben lang mit den Worten »jetzt aber nicht« den Eintritt zum Gesetz verwehrt, und er schafft es nicht, zum Gesetz (der Tora) vorzudringen:

»Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ›Es ist möglich‹, sagt der Türhüter, ›jetzt aber nicht.‹
Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ›Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.‹
Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt.
Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlüsse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne.
Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: ›Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.‹
Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen.
Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange.
Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu Ungunsten des Mannes verändert. ›Was willst du denn jetzt noch wissen?‹ fragt der Türhüter, ›du bist unersättlich.‹ ›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagt der Mann, ›wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?‹
Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ›Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹
«

GEWÜRZE Die Lehren von Parabeln sind jeweils in der Pointe versteckt: Ketoret ist ein Rauchopfer, das aus 13 Gewürzen besteht: zwölf duftende und eine schlecht riechende Zutat. Sollte man eine Zutat weglassen, sogar die, die nicht gut riecht, ist das Opfer ungültig.

An Jom Kippur bringt genau dieses Rauchopfer Sühne für das jüdische Volk, denn G’tt schätzt unseren Dienst mehr als den Dienst der Engel. Denn wir haben einen bösen Trieb und dadurch auch die Möglichkeit, Fehler zu begehen – im Gegensatz zu den Engeln, die keinen freien Willen haben.

Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass Tora zu lernen und sie zu befolgen, nur Engeln, Rabbinern oder anderen frommen Juden vorbehalten ist. Egal, woher man kommt und wo man gerade ist, jeder Schritt näher zum Gesetz wird von G’tt wertgeschätzt. Und gerade, wenn jemand nicht so perfekt wie ein Engel ist und sich der Tora etwas nähert, ist das für G’tt »der schönste Geruch«.

türhüter Der Mann vom Lande in Kafkas Parabel will auch zum Gesetz – doch ein Türhüter hält ihn davon ab. Manch einer von uns kennt dieses Gefühl: Wir geben zu, dass es gut ist, etwas mehr Tora zu lernen und die Gebote zu befolgen – »jetzt aber nicht«. Vielleicht später, wenn man einen festen Job hat oder Karriere gemacht hat. Oder später, wenn man eine Familie oder Kinder hat. Oder wenn man in Rente geht?

Wenn wir uns das nächste Mal bei einem solchen Gedanken erwischen, werden wir uns an das Ketoret-Opfer aus unserem Wochenabschnitt erinnern und uns motivieren, dem Aufschieben ein Ende zu setzen: Nicht trotz unseres Menschseins und unserer alltäglichen Umstände versuchen wir, der Tora näherzukommen, sondern gerade weil wir nicht perfekt sind und es so schwer ist, im Tumult des Lebens die Zeit und Kraft zu finden, sich der Tora zu widmen, haben unsere Bemühungen einen besonderen Wert.

Im Judentum hat jeder Einzelne von uns die Pflicht, Tora zu lernen. Man muss immer einen Schritt nach vorn gehen und seine Türhüter einen nach dem anderen überwinden. Ein »Am Haaretz« zu sein, ist keine Option.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Acharej Mot beginnt mit Anordnungen zu Jom Kippur. Dann werden weitere Speisegesetze übergeben, wie etwa das Verbot des Blutgenusses und das Verbot des Verzehrs von Aas. Den Abschluss bilden verbotene Ehen wegen zu naher Verwandtschaft und Regelungen zu verbotenen sexuellen Beziehungen.
3. Buch Mose 16,1 – 18,30

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