Wajikra

Jeder ist ein Teil des Ganzen

In Zeiten der Pandemie, da Abstandsregeln eingehalten werden müssen, fällt es manchem schwer, sich als Teil des Ganzen zu fühlen. Foto: Getty Images

Mit dem Wochenabschnitt Wa­jikra beginnt das 3. Buch Mo­se. Im Hebräischen ist es nach dem ersten Wort im ersten Vers unseres Wochenabschnitts benannt: »Wajikra« – »Und er rief«. G’tt ruft Mosche, um ihm Anweisungen zur Verrichtung der Opfer zu geben.

Interessanterweise ist bei diesem ersten Wort im Text, Wajikra, der letzte Buchstabe, das Alef, kleiner als alle anderen Buchstaben im Vers geschrieben. Warum?

Konsonant Das Alef, der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, ist ein lautloser Konsonant. Er kann, abhängig von seiner Vokalisierung, zu jedem der Vokale werden. Alef ist mit dem Wort Aluf verwandt, das so viel wie »Meister« bedeutet.

Aufgrund der oben genannten Beispiele und noch vieler weiterer Besonderheiten dieses Buchstabens wird das Alef in der jüdischen Mystik als Symbol für Spiritualität gesehen. Es gibt daher Kommentatoren, die das verkleinerte Alef im Wort Wajikra als Symbol für die verkleinerten spirituellen Kräfte Mosches infolge der Sünde des Goldenen Kalbs sehen.

Zur Erinnerung: Als Mosche mit den Zehn Geboten vom Berg Sinai herabstieg, hatte ein Teil des Volkes angefangen, ein Goldenes Kalb zu verehren. Mosche bat G’tt um Vergebung. Er war bereit, sich selbst zu opfern, um die Israeliten vor der g’ttlichen Strafe zu bewahren. G’tt nahm das Gebet an, doch nach der Sünde mit dem Goldenen Kalb war das spirituelle Niveau des Volkes stark gesunken.

GÖTZENDIENST Mosche selbst war an der Sünde nicht beteiligt. Im Gegenteil, der Götzendienst war ihm ein Gräuel. Trotzdem, so legen es einige Kommentatoren nahe, haben auch Mosches spirituelle Fähigkeiten unter der Sünde des Goldenen Kalbs gelitten. Warum? Weil wir alle miteinander verbunden sind. Fällt einer, so fallen alle. Steigt einer, so steigt jeder. Es ist so, als wären wir alle mit einer Schnur miteinander verbunden. Fällt jemand, so zieht die Schnur alle nach unten. Steigt jemand hinauf, so zieht die Schnur alle nach oben.

Im Talmud heißt es: »Alle Israeliten sind füreinander verantwortlich« (Schawuot 39a). Unsere Weisen veranschaulichen dies an einer anderen Stelle mit einer Metapher: »Das Volk Israel gleicht einem Boot. Wenn in den unteren Kabinen ein Loch ist, kann niemand sagen: ›In meiner Kabine ist kein Loch.‹ Denn wenn ein Teil des Schiffs beschädigt ist, kann das gesamte Schiff sinken.«

Wir sehen also, dass die talmudischen Weisen das jüdische Volk als Einheit gesehen haben – und nicht nur als die Gesamtheit aller Juden. Jeder ist verpflichtet, den anderen zu schützen. Jeder ist verpflichtet, für den anderen da zu sein. Das jüdische Volk wird aufgefordert, sich wie eine Familie zu sehen, in der jedes Individuum durch einen Bund der Liebe mit dem anderen verbunden ist.

Dies bedeutet nicht, dass nur das jüdische Volk miteinander verbunden ist. Jeder Mensch ist mit jedem anderen Menschen verbunden. Jeder ist ein Teil des Ganzen.

Doch die Tora ist daran interessiert, das jüdische Volk zu einem »Reich der Priester (Kohanim) und einem heiligen Volk« (2. Buch Mose 19,6) zu machen. So wie die Kohanim innerhalb des jüdischen Volkes die Rolle der treibenden moralischen Ins­tanz ausüben, soll das gesamte Volk zu den Kohanim der Menschheit werden. Und das nicht, weil das jüdische Volk anderen Völkern in irgendeiner Art und Weise überlegen wäre, sondern weil es einer Aufgabe geweiht wurde. Indem das jüdische Volk als große Familie zusammenlebt, soll die gesamte Menschheit dazu inspiriert werden, als Familie zusammenzuleben. Die Einheit aller ist laut der Tora der wahre Naturzustand des Menschen.

KRIEG In diesem Punkt ist die jüdische Philosophie das genaue Gegenteil der Theorie des berühmten englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679). Dieser beschreibt den Naturzustand des Menschen als »Krieg aller gegen alle«. Ein autoritärer Herrscher, den Hobbes »Leviathan« nennt, soll in diesem Krieg für Recht und Ordnung sorgen. Interessanterweise ist dieser Name von jüdischen Quellen inspiriert worden. Im Tanach bezeichnet der Leviathan ein mystisches Meerestier.

Laut dem Talmud wird der Leviathan zur Ankunft des Messias vernichtet werden – zu einer Zeit, da die Welt die Präsenz G’ttes erkennen wird (Bava Batra 75a).

Hobbes hat sich bei der Namenswahl von der Bibel inspirieren lassen. Vielleicht hat er seinen autoritären Herrscher Leviathan genannt, weil dessen Rolle im Licht der g’tt­lichen Offenbarung überflüssig wird.

Wenn im messianischen Zeitalter G’ttes Präsenz offenbart wird, dann versteht jeder, dass wir ein Ganzes sind. In einer solchen Welt kann es keinen »Krieg aller gegen alle« geben.

GERECHTIGKEIT Im Laufe der Geschichte haben Jüdinnen und Juden immer wieder Bewegungen für soziale Gerechtigkeit unterstützt. Dies geschah immer aus dem Gedanken heraus, dass es unmöglich ist, im Luxus zu leben, während andere am Rande des Existenzminimums dahinvegetieren. In der globalisierten Welt bestätigt sich dieser Gedanke stets aufs Neue.

Doch die Tora meint nicht nur materiellen Wohlstand. Die jüdischen Quellen beziehen sich vor allem auf das spirituelle Wohlergehen der Menschen. Soziale Gerechtigkeit ist für die Tora Ausdruck eines vertieften Bewusstseins für die Essenz des Lebens auf der Erde. Diese besteht darin, dass alles, was man dem Nächsten gibt, auf einen selbst zurückkommt. Jeder kann seinem Nächsten zu jeder Zeit etwas geben. Und zwar das Gebet. So heißt es im Talmud: »Jeder, der für seine Freunde betet und dieselbe Sache benötigt, dessen Gebet wird als Erstes beantwortet« (Bava Kamma 92a).

Der Talmud lernt dies aus dem Buch Hiob: »Und G’tt wandte das Gefängnis Hiobs, da er bat für seine Freunde. Und G’tt gab Hiob zweimal so viel, wie er gehabt hatte« (42,10). Man mag es kaum glauben: All diese Lehren gehen auf einen verkleinerten Buchstaben zurück, das Alef.

Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.


inhalt
Der Wochenabschnitt Wajikra steht am Anfang des gleichnamigen dritten Buches der Tora und enthält Anweisungen dazu, wie, wo und von welchen Tieren die verschiedenen Opfer dargebracht werden sollen. Es werden fünf Arten unterschieden: das Brand-, das Schuld-, das Friedens- und das Sündenopfer sowie verschiedene Arten von Speiseopfern.
3. Buch Mose 1,1 – 5,26

Bereschit

Die Freiheit der Schöpfung

G’tt hat für uns die Welt erschaffen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, sie zu verbessern

von Rabbiner Avichai Apel  17.10.2025

Talmudisches

Von Schuppen und Flossen

Was unsere Weisen über koschere Fische lehren

von Detlef David Kauschke  17.10.2025

Bracha

Ein Spruch für den König

Als der niederländische Monarch kürzlich die Amsterdamer Synagoge besuchte, musste sich unser Autor entscheiden: Sollte er als Rabbiner den uralten Segen auf einen Herrscher sprechen – oder nicht?

von Rabbiner Raphael Evers  17.10.2025

Mussar-Bewegung

Selbstdisziplin aus Litauen

Ein neues Buch veranschaulicht, wie die Lehren von Rabbiner Israel Salanter die Schoa überlebten

von Yizhak Ahren  17.10.2025

Michael Fichmann

Essay

Halt in einer haltlosen Zeit

Wenn die Welt wankt und alte Sicherheiten zerbrechen, sind es unsere Geschichte, unsere Gebete und unsere Gemeinschaft, die uns Halt geben

von Michael Fichmann  16.10.2025

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025

Tradition

Geborgen unter den Sternen

Mit dem Bau einer Sukka machen wir uns als Juden sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Nachbarn erklären können, was uns die Laubhütte bedeutet

von Chajm Guski  06.10.2025

Sukkot

Fest des Vertrauens

Die Geschichte des Laubhüttenfestes zeigt, dass wir auf unserem ungewissen Weg Zuversicht brauchen

von Rabbinerin Yael Deusel  06.10.2025