Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Foto: Getty Images

Im Wochenabschnitt Lech Lecha wird von Awraham als Stammvater Israels erzählt. Er gilt Juden, Christen und Muslimen als Vater des Glaubens an den einen Gott und nach der Tora als Begründer des Monotheismus. Die Initialzündung für Gottes Weg mit Awraham finden wir im 1. Buch Mose 12, 2–3: »Und ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.«

Warum fiel Gottes Wahl ausgerechnet auf Awraham? In der Bibel finden wir in der Regel eine Erklärung, warum der Ewige einen bestimmten Menschen erwählt. So heißt es beispielsweise von Noach: »Noach war ein frommer Mann und ohne Tadel zu seinen Zeiten; er wandelte mit Gott« (6,9). Mosche zeichnet sich in Midian und Ägypten durch seinen Gerechtigkeitssinn aus. Und den Propheten Jirmejahu lässt der Ewige wissen: »Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker« (Jirmejahu 1,5).

Awraham war der Erste, der gegen den Götzendienst seiner Zeit kämpfte

Für Awrahams Berufung nennt die Tora keine Gründe, die an seiner Person festgemacht werden. Doch unsere Weisen geben sich mit dieser Leerstelle nicht zufrieden und suchen nach einer Erklärung. Sie weisen darauf hin, dass Awraham der Erste war, der gegen den Götzendienst seiner Zeit kämpfte. In der Pessach-Haggada wird Josua (24,2) zitiert: »So spricht der Ewige, der Gott Israels: Eure Väter wohnten vorzeiten jenseits des Stroms, Terach, Awrahams und Nahors Vater, und dienten fremden Göttern.«

Dazu wird in einem Midrasch die Geschichte von Awrahams Vater erzählt, der sein Geld als Götzenproduzent verdiente. Als Terach auf Geschäftsreise ging, bat er seinen Sohn, ihn im Geschäft zu vertreten. Im Laden stand unter anderem eine riesige Götzenskulptur, die vom Boden bis zur Decke reichte und einen Stock in der Hand hielt. Kurz bevor Terach zurückkehrte, zerschlug Awraham das Inventar des Ladens. Bei seiner Rückkehr fragte der Vater, erschrocken über die Zerstörung, was passiert sei. Awraham antwortet, die Götzenfigur mit dem Stock habe alles zerstört. Terach entgegnet, das sei unmöglich, da der Götze nicht laufen kann. Daraufhin fragt ihn Awraham: »Nun, Vater, an was glaubst du dann, wenn es tatsächlich so ist?« So überführte er Terach seines Götzendienstes.

Maimonides, der Rambam (1135–1204), bemerkt: Awraham hatte keinen Lehrer, von dem er lernen konnte. Er war der Erste, der sich fragte, wer die Naturgesetze in Gang hält, wie sich Tag und Nacht stetig abwechseln, wie Sonne, Mond und Sterne sich rechtzeitig aktivieren. Er zog aus diesen Beobachtungen den Schluss: Über der Natur muss es einen Mächtigen geben, der das Gleichgewicht und die Wunder der Natur geschaffen hat, in seiner Hand hält und sie intakt bewahrt. Hier offenbart sich der 40-jährige Awraham als Philosoph, der erste metaphysisch, aristotelisch denkende Mensch, der die Existenz des Schöpfers beweist (Mischne Tora, Avoda Sara 1,3). So folgert Rambam, dass das logische Denken bei den Juden mit Awraham begonnen hat.

»Nichts nämlich ist demokratischer als die Logik«

Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) greift diesen Gedanken in seinem Werk Die fröhliche Wissenschaft auf. Er betont: »Europa ist gerade in Hinsicht auf Logisierung, auf reinlichere Kopfgewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig.« Er meint, die Logik ist die einzige Bühne, auf der die Juden ihre Stimme hören lassen können, ohne Widerstand zu ernten. »Nichts nämlich ist demokratischer als die Logik: Sie kennt kein Ansehen der Person.«

In einem Midrasch wird erzählt, wie Awraham an einem brennenden Palast vorübergeht. Er fragt: »Ist dieser Palast ohne Besitzer?« Eine Stimme antwortet: »Ich bin der Besitzer dieses Palastes.«

Mit der Symbolik dieser Geschichte wird uns Gott als Eigentümer des Palastes, der Welt, nahegebracht. Der Ewige hat sie dem Menschen anvertraut, doch dieser vernachlässigt seine Verantwortung für Gottes Schöpfung und lässt sie ungerührt »abbrennen«. Nur Awraham erhört den Hilferuf Gottes und beginnt, das Feuer zu löschen. Er kann sich mit der Zerstörung der Welt und der darin herrschenden Ungerechtigkeit, die durch menschliches Handeln verursacht wird, nicht abfinden. Hier wird uns Awraham als Vorkämpfer für die Gerechtigkeit vor Augen geführt.

Der Besitzer des Palastes löscht das Feuer nicht selbst

Bei dieser Parabel fällt auf: Der Besitzer des Palastes löscht das Feuer nicht selbst. Wenn der Ewige allmächtig ist, warum braucht er Awrahams Hilfe? Die Antwort lautet: Offenbar will Gott, dass Awraham ihm hilft, die Flammen zu löschen. Dazu erklären unsere Weisen: Das Böse ist in der Welt, weil Gott der Menschheit die Freiheit gegeben hat, sich für das Gute oder das Böse entscheiden zu können. Ohne diese Wahl- und Willensfreiheit wäre der Mensch nicht in der Lage, Gottes Gebote zu erfüllen.

Und so sind die Freiheit und die Möglichkeit, Böses zu tun, die Themen von Adam und Chawa, Kajin und Hewel und der Sintflutgeschichte. In diesen Geschichten und in unserer Lebensgeschichte heute begrenzt Gott sein Eingreifen zugunsten unserer Handlungsfreiheit. Er gibt uns damit auch die Chance, aus Fehlern zu lernen.

Warum also hat der Ewige ausgerechnet Awraham erwählt? Weil er durch ihn und durch alle, die Awrahams Spur folgen, unsere Hilfe braucht und will. Der Stamm- und Glaubensvater der Juden, Christen und Muslime war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der im Namen des einen Gottes gegen das Böse aufstand und sich für Gerechtigkeit einsetzte. Gott lässt ihn sogar gegen sich selbst streiten, als Awraham sich für die wenigen Gerechten in Sodom und Gomorra einsetzt: »Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?« (1. Buch Mose 18,25).

»Tun, was recht und gut ist«

Nur wenige Verse vorher lässt Gott sich in die Karten schauen, was das Ziel seiner Erwählung Awrahams angeht: »Denn dazu habe ich ihn auserkoren, dass er seinen Kindern befehle und seinem Haus nach ihm, dass sie des Ewigen Wege halten und tun, was recht und gut ist.«

Dieser Erwählte Gottes bringt Zivilisation in die Welt im Namen der Gerechtigkeit und Liebe Gottes. Und so kämpfen wir heute in den Spuren Awrahams gegen die lodernden Flammen der Bosheit mit guten Taten der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit – immer in der Hoffnung, die Welt Gott ein Stück näherzubringen.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt Lech Lecha erzählt, wie Awram und Sarai ihre Heimatstadt Charan verlassen und nach Kena’an ziehen. Awrams ägyptische Magd Hagar schenkt ihm einen Sohn, Jischmael. Der Ewige schließt mit Awram einen Bund und gibt ihm einen neuen Namen: Awraham. Als Zeichen für den Bund soll von nun an jedes männliche Neugeborene am achten Lebenstag beschnitten werden.
1. Buch Mose 12,1 – 17,27

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025

Chanukka

Das jüdische Licht

Die Tempelgeschichte verweist auf eine grundlegende Erkenntnis, ohne die unser Volk nicht überlebt hätte – ohne Wunder kein Judentum

von Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky  12.12.2025

Deutschland-Reise

Israels Oberrabbiner besucht Bremen

Kalman Meir Ber trifft Bürgermeister Andreas Bovenschulte und die Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft, Antje Grotheer (beide SPD)

 12.12.2025

Wajeschew

Ein weiter Weg

Das Leben Josefs verlief nicht geradlinig. Aber im Rückblick erkennt er den Plan des Ewigen

von Rabbinerin Yael Deusel  12.12.2025

Talmudisches

Nach der Sieben kommt die Acht

Was unsere Weisen über die Grenze zwischen Natur und Wunder lehren

von Vyacheslav Dobrovych  12.12.2025

Chanukka

Nach dem Wunder

Die Makkabäer befreiten zwar den Tempel, doch konnten sie ihre Herrschaft nicht dauerhaft bewahren. Aus ihren Fehlern können auch wir heute lernen

von Rabbiner Julian-Chaim Soussan  12.12.2025

Quellen

Es ist kompliziert

Chanukka wird im Talmud nur selten erwähnt. Warum klammerten die Weisen diese Geschichte aus?

von Rabbiner Avraham Radbil  11.12.2025