Im 13. Jahrhundert wandte sich eine Frau mit einer Frage an den Maharam von Rothenburg (um 1215–1293). Als einer der führenden Rabbiner Europas seiner Zeit war er eine anerkannte Autorität sowohl für halachische Fragen, die jüdische Rechtsprechung, als auch bei persönlichen Anliegen.
Die Frau war von ihrem Ehemann schwer misshandelt worden und hatte dadurch ein Auge verloren. Dies ist ein Szenario, das fast wörtlich in der Tora geschildert wird. Der Maharam verurteilte den Ehemann aufs Schärfste und betonte, dass ein Mann seine Ehefrau mehr achten und ehren muss als sich selbst, denn Gewalt habe in einer Ehe keinen Platz. Darüber hinaus wies er an, dass dem Opfer eine Entschädigung zusteht, für den Verlust des Auges und alle damit einhergehenden Einbußen, etwa durch eine Tätigkeitsbeschränkung.
»Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn«
Der Rechtsspruch des Maharam geht einher mit der traditionellen Auslegung des Verses »Schewer tachat Schewer, Ajin tachat Ajin, Schen tachat Schen, ka’ascher jiten Mum ba’Adam ken jinaten bo« – »Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn – wie er eine Verletzung zugefügt hat, so soll es ihm gegeben werden« (3. Buch Mose 24,20).
Dieser Vers aus Paraschat Emor, dem Toraabschnitt dieser Woche, ist Teil der Gebote, die in materiellen und körperlichen Schadensfällen zu befolgen sind.
Wir lesen, dass einem Menschen, der vorsätzlich mordet, die Todesstrafe zukommt und ein Mensch, der ein Tier umbringt, dieses zu ersetzen hat. Im Falle der körperlichen Verletzung eines Menschen lesen wir die bekannte Stelle von »Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn«.
Schon der Talmud hat sich im Traktat Bava Kama (83b) mit der Frage befasst, wie dieser Vers zu verstehen ist. Dort wird davon ausgegangen, dass eine monetäre Erstattung gemeint ist. Trotz anderer Erklärungsansätze bleibt der Talmud bei dem Ergebnis, dass der Vers keinesfalls körperliche Vergeltung vorsieht. Vielmehr wird verlangt, dass dem Verletzten eine Erstattung zu zahlen ist, welche dem Wert des geschädigten Körperteils entspricht. Der Talmud führt unter anderem das Beispiel eines blinden Täters an. Hier würde eine wörtliche Anwendung dem Prinzip von gleicher Gerechtigkeit widersprechen.
Tradition, Verletzungen monetär zu kompensieren
Diese Auslegung prägt die Halacha bis heute. Die rabbinischen Autoritäten, auf die unsere heutige Auslegung der Halacha zurückgeht, schreiben allesamt, dass die Tradition, Verletzungen monetär zu kompensieren, schon seit jeher feststeht. So betont zum Beispiel der Schulchan Aruch die verschiedenen Verpflichtungen eines Gewalttäters. Er muss nämlich nicht nur den Gegenwert des verlorenen Körperteils ersetzen, sondern zusätzlich noch für den Schmerz (Tza’ar), den Heilungsprozess (Rifui), den Erwerbsausfall (Schewet) und für die Beschämung aufkommen, die die Verletzung hervorgerufen hat.
In der Moderne betont insbesondere Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808– 1888) den ethischen und pädagogischen Inhalt dieses Prinzips. Er analysiert die Formulierung »Ajin tachat Ajin« (»Auge um Auge«) und verweist auf das Wort »tachat«, das in der Tora meistens im Sinne von »anstelle von« und nicht als »Strafe« verwendet wird.
Rabbiner Hirsch schreibt in seinem Kommentar zum Chumasch, dass die Tora keine Rache fordert, sondern Verantwortung. Es soll das moralische Bewusstsein des Täters geweckt und nicht nur für juristischen Ausgleich gesorgt werden. Eine buchstäbliche Anwendung, bei der dem Täter ebenfalls ein Körperteil entfernt oder beschädigt werden würde, wäre nicht nur unpraktikabel, sondern auch nicht vereinbar mit dem jüdischen Gerechtigkeitsprinzip.
Nur im Falle eines Mordes, bei dem das Leben des Opfers ausgelöscht wurde, ist keine Wiedergutmachung mehr möglich, und es wird eine Strafe über den Täter verhängt. Bei Verletzungen steht jedoch immer das Opfer im Vordergrund, und es muss so gehandelt werden, dass die Wiedergutmachung und nicht die Strafe priorisiert wird.
Das hebräische Wort, das die Tora für »bezahlen« verwendet, ist »jeschalmena«. Dieses Wort stammt von der Wurzel »schalem«, was »vollständig« bedeutet. Die Zahlung soll dazu dienen, dass der vorherige, vollkommene Zustand, soweit es geht, wiederhergestellt wird.
Starke ethische Tiefe
Rabbiner Hirsch zeigt auf, welch starke ethische Tiefe die Tora hier offenbart. Die Tora möchte keine Vergeltung, sondern Heilung. Sie will verhindern, dass sich Gewaltspiralen entwickeln, und beruft sich stattdessen auf die Verantwortung des Täters und das Recht des Opfers auf Ausgleich. Die Herangehensweise in der Tora hat ihre Grundlage in der tiefen Achtung vor dem Menschen und einem Leben in Frieden und dem Bestreben und Bemühen, sich als Mensch zu bessern.
Diese Prinzipien stehen in Einklang mit dem jüdischen Gedanken von Tikkun Olam, dem Streben nach einer gerechten und geordneten Welt. Sie spiegeln die tiefe Weisheit der jüdischen Rechtsprechung wider und zeigen deutlich, dass diese Gebote auch heute nicht an Relevanz verloren haben.
Gerade in einer Welt, in der nicht nur körperliche, sondern auch psychische Verletzungen drastisch zunehmen, ist es unerlässlich, sich unserer moralischen Verpflichtungen gegenüber Geschädigten bewusst zu sein. Die Anonymität des Internets und die Schnelllebigkeit moderner Beziehungen führen oft dazu, dass sich Menschen verletzend äußern oder handeln und dies meist ohne Konsequenzen und ohne echte Begegnung.
Digitale und fragmentierte Welt
Doch genau in dieser digitalen und fragmentierten Welt gilt die Botschaft der Tora mehr denn je. Sie fordert uns auf, nicht gleichgültig zu bleiben, sondern Verantwortung zu übernehmen, auch wenn der Täter unbekannt bleibt. Es liegt an uns, als moralisch handelnde Menschen, mit gutem Beispiel voranzugehen, Haltung zu zeigen und Mitgefühl, Zivilcourage und Verantwortung vorzuleben.
Diese Verpflichtung betrifft alle Lebensbereiche, sei es im persönlichen Umgang, in der digitalen Welt oder im gesellschaftlichen Zusammenleben. Die Tora ruft uns auf, anderen Menschen würdevoll zu begegnen, überall und in jeder Situation.
Die Tora und das jüdische Recht sind nicht bloß ein System von Geboten. Sie bilden einen ethischen Kompass, der uns lehrt, Gerechtigkeit mit Menschlichkeit zu verbinden und dadurch einen Beitrag zu einer heileren und menschlicheren Welt zu leisten.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
inhalt
Am Anfang des Wochenabschnitts Paraschat Emor stehen Verhaltensregeln für die Priester und ihre Nachkommen. Ferner wird beschrieben, wie die Opfertiere beschaffen sein müssen. Außerdem werden kalendarische Angaben zu den Feiertagen gemacht: Schabbat, Rosch Haschana, Jom Kippur und die Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot werden festgelegt. Gegen Ende des Wochenabschnitts wird erzählt, wie ein Mann den G’ttesnamen ausspricht und für dieses Vergehen mit dem Tod bestraft wird.
3. Buch Mose 21,1 – 24,23