Nasso

Im Dienst der anderen

Führt seinen Enkel an der Hand: Israels Staatsgründer David Ben Gurion in einer Aufnahme aus dem Jahr 1967 in der Negevwüste Foto: picture alliance / SvenSimon

In der Antike waren die Gesellschaften in der Regel hierarchisch organisiert. Die meisten Menschen lebten in materieller, finanzieller und sozialer Armut, nicht lesen und schreiben zu können, war normal. Die Führungseliten lebten auf Kosten der rechtlosen Masse. Sie diente ihnen dazu, ihren eigenen Einfluss und Reichtum zu vermehren.

Die politischen Machthaber nutzten das Volk aus. Es wurde zum Bau von imposanten Schlössern und Palästen herangezogen. Männer wurden je nach Bedarf als Soldaten rekrutiert und in Kriegen als »Menschenmaterial« eingesetzt. Wer die Macht hatte, bestimmte über Leben und Tod. Kaiser und Könige waren an der Spitze einer religiösen Pyramide angesiedelt. Sie verstanden sich als von Gottes Gnaden eingesetzt. Ihre Macht- und Gewaltausübung wurde als ein Naturrecht angesehen. Sie repräsentierten das Gesetz der Natur, und die Natur war heilig.

Das Judentum positioniert sich gegen diese politische Ideologie. Grundlage einer jüdischen Gesellschaftsordnung ist das biblische Menschenbild: Alle Menschen sind nach Gottes Ebenbild geschaffen.

Die Tora führt uns in die Vision einer idealen Welt

In der Tora lesen wir: Gott hat sich sein Volk Israel erwählt. Seine Gesellschaftsordnung ist nicht auf Geld und Macht aufgebaut. Mosche, den der Ewige mit der Führung des Volkes beauftragte, erhielt den Titel »Gottes Knecht« – eine mit hohem Anspruch verbundene Bezeichnung.

Von Mosche heißt es im 4. Buch Mose: »Und der Mann Mosche war sehr bescheiden, mehr als irgendein Mensch auf der Erde« (12,3). Demnach bedeutet Führen zu dienen. Und in Mischle 29,23 heißt es: »Des Menschen Hochmut erniedrigt ihn, der Demütige aber wird Ehre erlangen.« Daraus lernen wir: Bescheidenheit wird mit Ansehen belohnt.

Die Tora führt uns in die Vision einer idealen Welt. Das tut sie nicht, ohne die realen Umstände zu beschreiben, wie sie sich zum Beispiel zur Zeit Mosches darstellten. Im Grunde beschäftigt sich das 4. Buch Mose mit der Selbstüberschätzung des Menschen, mit Neid und der ungezügelten Befriedigung von Trieben.

Mosche war sich dieser menschlichen Konstellation bewusst und reagierte mit seinem Führungsstil darauf. Die meisten Israeliten wollten sich nicht in seiner Position sehen. Er war der Einzige, der mit Gott von Angesicht zu Angesicht sprach. Er hatte die Verhandlungen mit dem Pharao zu führen, als es um die Entlassung des Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft ging. Er wurde mit der Ausführung der Wunder im Namen Gottes beauftragt, spaltete das Rote Meer, ließ Wasser aus dem Felsen quellen und das Manna vom Himmel kommen.

Doch gab es im Volk Einzelne, die gegen den Stamm Levi rebellierten, ihr Neid richtete sich gegen die religiöse Führung. Auf sie trifft die Weisheit zu: Nur wenige können über die Erfolge ihrer Freunde sprechen, ohne neidisch zu sein.

Hass zeichnet sich durch aktive Feindschaft und Neid durch passive Feindschaft aus

Goethe erkannte, dass sich der Hass durch aktive Feindschaft und der Neid durch passive Feindschaft auszeichnet. Deshalb dürfe man sich nicht wundern, wenn der Neid so schnell in Hass übergeht. Neid und Hass prägen auch die Geschichte des Volkes Israel. Rassismus und Antisemitismus sind davon angetrieben.

In unserem Wochenabschnitt lesen wir, dass Mosche sich als sehr begabter Anführer mit drei Quellen des Neids auseinandersetzt. So gab es im Stamm Levi Menschen, die offen gegen Aharon und seine Söhne rebellierten, weil diese exklusiv das Priestertum innehatten. Daneben gab es eine zweite Gruppe, die danach strebte, am kultischen Dienst beteiligt zu werden. Für die meisten Angehörigen der übrigen Stämme war das Gefühl des Ausgeschlossenseins vom kultischen Dienst prägend. Sie hatten keine Möglichkeit, am Dienst in der Stiftshütte teilzunehmen.

Mosche begegnete diesen Entwicklungen. Er übertrug jedem Familienverband aus dem Stamm Levi eine Aufgabe im Zusammenhang mit dem Ab- und Aufbau der Stiftshütte. So werden die Kinder Kehats beauftragt, die Geräte des Heiligtums zu transportieren. Und die Kinder Meraris sollen die Bretter, die Riegel, die Latten und die Bänke tragen.

Mosche widmet sich sogar denen, die sich ein höheres religiöses Niveau erarbeiten wollen, den Nasiräern. Ihnen gibt er ein festes Regelwerk vor, nach dem sie sich verhalten können, um ihre besondere Hingabe zu Gott zu leben. Sie müssen auf den Genuss von Traubenprodukten verzichten, dürfen sich nicht rasieren und nicht mit Leichen in Berührung kommen.

Außerdem lesen wir in unserem Wochenabschnitt von den jeweiligen täglichen Opfergaben der Stammesfürsten zur Einweihung des Altars. Damit erlangten die Stämme ihren Ehrenplatz im Heiligtum.

Jeder Anführer sollte seine Gruppe ernst nehmen

Auch wenn das Thema in unserer Parascha nicht ausdrücklich behandelt wird, erhalten wir doch den Hinweis, dass jeder Anführer seine Gruppe ernst nehmen und auf ihre berechtigten Anfragen und Forderungen eingehen sollte.

Und auch, wenn alle Menschen sich damit grundsätzlich einverstanden erklären, dass jedem Ehre zusteht, sieht doch häufig einer neidisch auf den Erfolg des anderen.

Rabbi Eleasar Hakappar sagt: Neid, Genusssucht und Ehrsucht bringen den Menschen aus der Welt. Sie vernichten sein diesseitiges und zukünftiges Glück, denn sie bringen ihn in einen feindlichen Gegensatz zur Welt, führen ihn zu allen Sünden und entziehen ihn seiner Bestimmung. Sie sind auch gefährlich, weil sie die Harmonie im Zusammenleben der Gesellschaft stören. An erster Stelle muss deshalb von einer öffentlichen Führungsperson Bescheidenheit erwartet werden. Sie darf nicht zum Neid oder zur Ehrsucht neigen.

Mosche Rabbenu hatte einen Gegner: Korach. Auch Julius Cäsar hatte einen Gegner: Gaius Cassius. Solche Gegner können der Führung schaden, wenn sie nicht rechtzeitig erkannt und ernst genommen werden.

Die Botschaft unseres Abschnitts erläutert am Beispiel Mosches: Leitende Persönlichkeiten sollten bescheiden sein und auch so auftreten. Sie sollen sich darum bemühen, keinen Menschen in ihrem Wirkungskreis zurückzusetzen, sondern alle nach gleichem Recht behandeln.

Eine Leitungsposition innezuhaben, bedeutet Dienst und nicht, eine Position über andere einzunehmen. Gleichwohl: Der Neid in unserer Gesellschaft wird immer wie ein Feuer brennen, dass sogar alle Wasser und Ozeane diese Flamme nicht löschen können.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt Paraschat Nasso setzt die Aufgabenverteilung beim Transport des Stiftszelts fort. Es folgen verschiedene Verordnungen zum Zelt und ein Abschnitt über Enthaltsamkeitsgelübde. Dann wird der priesterliche Segen übermittelt. Den Abschluss bildet eine Schilderung der Gaben der Stammesfürsten zur Einweihung des Stiftszelts.
4. Buch Mose 4,21 – 7,89

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