In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 wurde die Familie Bibas aus ihrem Haus im Kibbuz Nir Oz von palästinensischen Terroristen entführt. Vater Yarden Bibas verbrachte 484 Tage in Geiselhaft, ohne vom brutalen Schicksal seiner Familie zu wissen. Seine Frau und die beiden Kinder wurden von der Hamas ermordet. Nach seiner Freilassung berichtete er, dass die Terroristen ihm eine bessere Behandlung angeboten hätten, wenn er zum Islam konvertiert wäre. Yarden lehnte dies ab mit den Worten: »Ich wurde als Jude geboren und werde als Jude sterben.« Darauf gaben ihm seine Geiselnehmer zwei Tage lang kein Essen.
Die Geschichte des jüdischen Volkes ist seit der Zerstörung des Zweiten Tempels von Verfolgung und Vertreibung geprägt. Vom frühen Mittelalter über die Neuzeit bis in die Gegenwart. Auch nach der Gründung des Staates Israel gab es kaum ein Jahrzehnt, in dem Juden ungestört leben und ihre Religion frei ausüben konnten.
Jüdischsein bedeutete zu vielen Zeiten, der Willkür von Herrschern ausgeliefert zu sein, das hart erarbeitete Einkommen für Schutzgelder zu opfern, die Heimat zu verlieren – oder sogar zwischen Leben und Glauben wählen zu müssen. Während der Kreuzzüge wurden ganze jüdische Gemeinden ausgelöscht, weil sie sich weigerten, sich taufen zu lassen.
Grundsätzlich stellt das Judentum das Leben über die Einhaltung der Gebote.
Auch Walentyn Potocki, bekannt als »Avraham Ben Avraham«, ein polnischer Adliger, der zum Judentum konvertierte, wurde hingerichtet, weil er sich weigerte, zum Katholizismus zurückzukehren. Nach jüdischen Überlieferungen wurde seine Asche nach dem Tod des Gaon von Wilna im Jahr 1797 neben dessen Grab bestattet – ein Zeichen höchster Ehrerbietung. Bedeutet dies, dass das Judentum den belohnt, der bereit ist, für seine Überzeugungen zu sterben?
Grundsätzlich stellt das jüdische Gesetz das menschliche Leben über die Einhaltung religiöser Gebote. Der Talmud (Sanhedrin 74a) leitet dies aus dem Vers ab: »Hütet meine Gesetze und meine Rechtsordnungen, die der Mensch zu erfüllen hat und Leben durch sie gewinnt« (3. Buch Mose 18,5). Daraus folgt: Man soll durch die Gebote leben – nicht sterben.
Nur in drei Fällen ist es verboten, das Leben über die Religion zu stellen: bei Mord, Ehebruch und Götzendienst. Wird man gezwungen, eines dieser Vergehen zu begehen, muss man den Tod wählen.
Zwischen den mittelalterlichen Gelehrten herrscht Uneinigkeit, ob man auch für andere Gebote als diese drei das Leben aufgeben darf. Rambam (Maimonides) und Ramban (Nachmanides) vertreten die Auffassung, dass man in solchen Fällen die Gebote brechen muss, um am Leben zu bleiben. Die Tosafisten hingegen (Avoda Sara 27b) erlauben es, auch für andere Toragebote das Leben hinzugeben – es sei nicht verpflichtend, aber erlaubt.
Der Schulchan Aruch (Jore Dea 157,1) scheint dieser Meinung zu folgen. Wenn ein Jude um des Glaubens willen stirbt, dann wird dies als »Kiddusch Haschem« bezeichnet – die Heiligung des g’ttlichen Namens.
Doch nicht immer standen Juden vor der Wahl zwischen Glauben oder Tod. Während der Schoa wurden mindestens sechs Millionen Juden ermordet – allein aufgrund ihrer Identität. Die jüdische Tradition nennt sie – wie Terroropfer in Israel und weltweit – Kedoschim, Märtyrer. Doch woher wissen wir, dass auch ein Jude, der allein aufgrund seiner Identität ermordet wird, den Status eines Kadosch erhält?
Eine mögliche Quelle dafür finden wir in »Iggeret HaSchmad«. Dabei handelt es sich um einen Brief, den der Rambam an die Juden von Spanien und Marokko angesichts der islamischen Zwangskonversion im 12. Jahrhundert schrieb. Während es hauptsächlich darum geht, die Meinung eines anonymen Gelehrten zu widerlegen und zu belegen, dass es sich beim Islam nicht um Götzendienst handelt, geht der Rambam auch auf das Konzept des »Kiddusch Haschem« ein. Er zitiert den Psalm 44,23: »Um Deinetwillen werden wir täglich getötet, wir gelten als Schlachtvieh«, und bringt dafür die folgenden Beispiele: die »Zehn Märtyrer« (Asara Harugei Malchut) und die »Märtyrer von Lod« (Harugei Lod).
Die Zehn Märtyrer waren große Toragelehrte, die zur Zeit der Römer nach der Tempelzerstörung auf grausame Weise hingerichtet wurden – oft ohne konkreten Anlass außer ihrer Identität als jüdische Führer. Daraus folge, so erklärt Rabbi Yitzchak Zilberstein, dass auch Juden, die »nur« wegen ihrer Identität getötet werden, einen Kiddusch Haschem vollbringen.
Die Harugei Lod hingegen waren nach Raschi die Brüder Papos und Lullianus. Als die Tochter des römischen Kaisers tot aufgefunden wurde, wurden die Juden beschuldigt. Die Brüder bekannten sich – um ihr Volk zu retten – fälschlich schuldig und wurden hingerichtet. Der Talmud (Baba Batra 10b) sagt, dass sich aufgrund ihres hohen spirituellen Niveaus niemand in der künftigen Welt ihrem Platz nähern kann.
Der ehemalige sefardische Oberrabbiner Ovadia Yosef verglich in seinen Ansprachen zu Jom Hasikaron gefallene Soldaten und Sicherheitskräfte mit den Harugei Lod. Auch sie hätten ihr Leben zum Schutz des jüdischen Volkes gegeben und erfüllten somit die Kategorie von Kiddusch Haschem.
Ein weiteres Beispiel für Kiddusch Haschem zeigte sich im Warschauer Ghetto: Am 19. April 1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Angesichts der bevorstehenden Deportationen führte eine kleine Gruppe junger, bescheiden bewaffneter Untergrundkämpfer einen verzweifelten Kampf gegen die Nazis. Fast einen Monat lang leisteten sie Widerstand und waren entschlossen, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Um den Widerstand zu brechen, ordnete SS-Kommandant Jürgen Stroop die systematische Zerstörung des Ghettos an und ließ es Haus für Haus niederbrennen. Die meisten der Untergrundkämpfer wurden schließlich getötet.
Niemand glaubte an den Erfolg des Aufstands. Es ging nicht um den Sieg, sondern darum, Widerstand zu leisten und nicht passiv auf die Deportation zu warten. Wie Marek Edelman, der letzte überlebende Anführer des Aufstands, später sagte: »Wir wussten ganz genau, dass wir keine Chance hatten zu gewinnen. Wir kämpften einfach, um den Deutschen nicht zu erlauben, Zeit und Ort unseres Todes zu bestimmen. Wir wussten, dass wir sterben würden.« Etwa 14.000 Juden wurden während des Aufstands und im Anschluss daran getötet; weitere 40.000 wurden deportiert.
Ein Rabbi im Warschauer Ghetto bezeichnete den Widerstand als Heiligung des Namens G’ttes.
Rabbi Menachem Ziemba, eine führende rabbinische Autorität im Ghetto, unterstützte den Aufstand. In Hillel Seidmans Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto wird er mit den Worten zitiert: »Es gibt verschiedene Arten von Kiddusch Haschem. Als Juden gezwungen wurden zu konvertieren, und durch eine Konversion gerettet werden könnten, wie in Spanien oder während der Kreuzzüge von 1096, war es ein Kiddusch Haschem zu sterben, anstatt zu konvertieren. Der Rambam sagt sogar, dass, wenn ein Jude getötet wird, nur weil er Jude ist, dies allein einen Kiddusch Haschem darstellt, und die Halacha folgt seiner Meinung. Aber heutzutage ist die Art und Weise, Kiddusch Haschem zu vollziehen, aktiven Widerstand zu leisten.«
Mit anderen Worten: In allen früheren Fällen, in denen der Glaube und die Einhaltung der Gebote bekämpft und die Juden vor die Wahl gestellt wurden, war die Entscheidung, Jude zu bleiben und sein Leben zu opfern, ein Kiddusch Haschem. Doch die Nazis kümmerten sich nicht um Religion, Glauben oder Observanz. Vielmehr wollten sie das gesamte jüdische Volk vom Angesicht der Erde tilgen, unabhängig vom Glauben. Bei einem solchen Feind besteht der wahre Kiddusch Haschem darin, dass Juden für ihre physische Existenz kämpfen – selbst wenn dies bedeutet, dass sie dafür sterben müssen.
Das jüdische Volk ist in seiner langen Geschichte durch unzählige Prüfungen gegangen. Tragische Episoden reihten sich aneinander, doch der Satz von Yarden Bibas – »Ich wurde als Jude geboren und werde als Jude sterben« – hallt wie ein Echo durch die Jahrhunderte. Es ist eine Geschichte voller Leid und Trauer, aber auch voller Mut, Treue und Aufopferung. Wenn wir zurückblicken, sehen wir: Die Imperien und Feinde, die uns verfolgten, sind längst vergangen. Doch das jüdische Volk lebt – nach 2000 Jahren Exil – wieder in seinem Land, stark, standhaft und bereit, den Maschiach zu empfangen.