Wajera

Hoffen auf Rettung

Feuersbrunst: Ein Vulkanausbruch auf La Palma im Herbst 2021 erinnert an biblische Katastrophen. Foto: Getty Images

Die Gesellschaft ist durch und durch schlecht. Sie ist nicht zu retten. Ihre Zerstörung von außen steht deshalb kurz bevor, und nur eine Familie bleibt übrig. Eine, die sich der schlechten Welt – so gut es geht – entziehen kann. Die Familie überlebt, doch der männliche Protagonist unserer Geschichte kommt danach in sexuellen Kontakt mit seinen Töchtern.

Über welche Geschichte sprechen wir? Ist die Rede von Noach und der Flut, die alles Leben vernichten sollte, außer Noach, seiner Familie und den Tieren auf der Arche? Oder über unseren aktuellen Wochenabschnitt Wajera, in dem von Awrahams Neffen Lot und seiner Familie erzählt wird? Sie wohnen in Sedom, und G’tt beschließt, diesen Stadtstaat zu vernichten. Er sendet Boten aus, die Lot und seine Familie retten sollen.

Wenn man die Geschichten auf ihre grundlegenden Bestandteile herunterbricht, ähneln sie sich verblüffend, und nicht nur strukturell nimmt die Schilderung von Lot Bezug auf die Flut. In unserem Abschnitt heißt es: »Und der Ewige ließ Schwefel und Feuer vom Ewigen aus dem Himmel auf Sedom und auf Amora regnen« (1. Buch Mose 19,24). Regnen steht hier wortwörtlich (himtir). Eine Erinnerung an die Flutgeschichte.

vernichtung In beiden Fällen kümmern sich die Protagonisten darum, sich und ihre Familien zu retten, jedoch ohne auf ihr Umfeld Einfluss zu nehmen. Grund und Art der Vernichtung sind verschieden, immerhin betrifft die erste Vernichtung die gesamte Menschheit und im zweiten Fall »nur« zwei Städte, Sedom und Amora.

In der Geschichte von Noach heißt es: »Da sprach G’tt zu Noach: Das Ende aller Wesen ist von Mir beschlossen, denn die Erde ist durch sie von Gewalt erfüllt« (1. Buch Mose 6,13). Nachmanides, der Ramban (1194–1270), kommentierte, Gewalt stehe hier für Raub und Unterdrückung: »Es ist ein Übel, das sich sowohl gegen den Himmel als auch gegen die Menschen richtet.« Es gab also keinerlei »Ordnung« auf der Welt. Der Stärkere verfuhr, wie er wollte. Dieser Kreislauf sollte durch einen »Neustart« durchbrochen werden.

Was waren die Sünden der Menschen in Sedom? Ist es die sexuelle Übergriffigkeit, mit der die Männer Sedoms die Boten bedrängen wollen, die bei Lot einkehren? Die Tradition nennt andere Gründe. Im Buch Jecheskiel heißt es: »Siehe, das war die Missetat deiner Schwester Sedom: Sie und ihre Töchter waren hochmütig, hatten Überfluss an Brot und viel Müßiggang, und doch stärkte sie die Hand der Armen und Bedürftigen nicht« (16, 48–50). Oder in der Mischna Awot (5,10): »Wer spricht: ›Das Meine ist mein und das Deine dein‹, dies ist eine mittelmäßige Sinnesart; einige sagen: Dies ist die Sinnesart Sedoms.«

Nach dem Midrasch Pirkej Eliezer (25) wurde jeder Bewohner dieser Orte, der versuchte, einem Bedürftigen Nahrung oder Hilfe zu geben, zum Tode verurteilt. Der Talmud erzählt im Traktat Sanhedrin (109b): »Vier Richter waren in Sedom: Lügner, Verlogener, Fälscher und Rechtsbeuger. Wenn jemand die Frau seines Nächsten stieß und sie ihr Kind verlor, urteilten sie: Gib sie ihm, bis er sie dir geschwängert hat. Wenn jemand das Ohr eines seinem Nächsten gehörenden Esels abschnitt, urteilten sie: Gib ihn ihm, bis es ihm nachgewachsen ist. Wenn jemand seinen Nächsten verwundete, urteilten sie: Zahle ihm eine Belohnung dafür, dass er dir Blut abgezapft hat.« Das Verhalten der Menschen von Sedom war also nicht willkürlich, es war »organisierter Egoismus«.

anzahl Es gibt zwischen beiden Erzählungen jedoch einen wesentlichen Unterschied: Awraham. Awraham streitet mit G’tt darüber, die Stadt zu verschonen, wenn eine Mindestanzahl an »Gerechten« zu finden wäre. Wären nur zehn Gerechte in der Stadt, könnten sie die anderen positiv beeinflussen. Laut Rabbi Saadia Gaon (892–942) dachte er dabei wohl auch an Lot und seine Familie und hoffte, sie hätten einen positiven Einfluss gehabt. Awraham ist damit der dritte Protagonist in unserer Konstellation, und in dieser finden wir drei Prototypen jüdischen Lebens in der Gesellschaft.

Der erste Typ war Noach. Er konzentrierte sich auf seine Familie und auf sich. Um ihn herum: das wortwörtliche Chaos. Der zweite Typ war Lot, der sich teils darum bemühte, in den Stadtstaat integriert zu werden. Er fühlte sich den Idealen Awrahams verpflichtet, aber hatte die Regeln von Sedom teilweise schon verinnerlicht. Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) ist skeptisch gegenüber Lot: Die Boten, die den Auftrag hatten, Sedom zu zerstören, wiesen Lot an, mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern zu fliehen, um verschont zu bleiben, aber er wurde gewarnt, nicht hinter sich zu schauen, um zu sehen, was in Sedom geschah.

Raschi erklärt, dass der Grund für diese Beschränkung darin lag, dass Lot sich der gleichen Sünden schuldig gemacht habe wie seine Nachbarn und zusammen mit ihnen hätte getötet werden müssen. Als die Bewohner Sedoms nach seinen Gästen fragen, um mit ihnen ihren »Mutwillen« zu treiben, zeigt sich, dass Lot in zwei Welten lebt: Er bietet seine unberührten Töchter an, überzeugt, er müsse die Gäste schonen. Aber diese Anpassung hilft ihm nicht. Er hört jenen Satz (19,9), der einigen bekannt vorkommt, die sich darum bemüht haben, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden: »Sie aber sprachen: Tritt beiseite! – Dieser Mensch ist als Fremder zu uns gekommen und will den Richter spielen!«

hoffnung Der dritte Prototyp ist Awraham, der für die Menschen erreichbar ist, aber nicht wie die Menschen um ihn herum geworden ist. Er betet für sie und ist mit seiner Verhandlung mit G’tt über die Anzahl der Gerechten in der Stadt überzeugt, dass es gute Menschen unter all den schlechten gibt. Er kümmert sich um die Gesellschaft, ohne sich anzugleichen, und beeinflusst diejenigen, die um ihn herum sind.

Von ihm wird Lot gelernt haben, dass man Besucher aufnimmt und für sie sorgt, so wie es gleich zu Beginn der Parascha von Awraham berichtet wird, der schnell dafür sorgt, dass seine plötzlichen Gäste versorgt werden. Damit zeigt Awraham, dass Hoffnung in Gesellschaften existiert, in denen sich noch »Gerechte« finden lassen. Menschen, die einem Trend weg von Werten trotzen und positiv wirken.

Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajera erzählt davon, wie Awraham Besuch von drei g’ttlichen Boten bekommt. Sie teilen ihm mit, dass Sara einen Sohn zur Welt bringen wird. Awraham versucht, den Ewigen von seinem Plan abzubringen, die Städte Sedom und Amora zu zerstören. Lot und seine beiden Töchter entgehen der Zerstörung, seine Frau jedoch erstarrt zu einer Salzsäule. Awimelech, der König von Gerar, nimmt Sara zur Frau, nachdem Awraham behauptet hat, sie sei seine Schwester. Dem alten Ehepaar Awraham und Sara wird ein Sohn geboren: Jizchak. Hagar und ihr Sohn Jischmael werden fortgeschickt. Am Ende der Parascha prüft der Ewige Awraham: Er befiehlt ihm, Jizchak zu opfern.
1. Buch Mose 18,1 – 22,24

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