Ekew

Hoch hinaus

Jakow wünschte sich, dass die Leiter, die die persönliche Entwicklung symbolisiert, auf festem Boden steht und die höchsten Höhen erreicht. Foto: Getty Images / iStock

Der große Toragelehrte Shimon HaAmsuni (manche nennen ihn Nechemia HaAm­suni) hatte sich ein Ziel gesetzt: Er wollte jedes einzelne »et« in der Tora erklären. »Et« ist ein besonderes hebräisches Wort, das ein Akkusativobjekt kennzeichnet – aber man darf es weglassen.

Laut unseren Weisen gibt es jedoch in der gesamten Tora kein unnötiges Wort, daher muss jedes »et« geschrieben werden, um eine neue Ebene des Verstehens zu lehren, eine zusätzliche Bedeutung, die auch im Text enthalten ist.

erklärung Aus diesem Grund hatte sich Shimon HaAmsuni verpflichtet, jedes »et«, das in der Tora zu finden ist, ein für alle Mal zu erklären. Doch als er unseren Wochenabschnitt erreichte (nachdem er vier Bücher erklärt hatte), hörte er auf: »Du sollst (et) deinen allmächtigen G’tt fürchten, Ihm sollst du dienen, und in Seinem Namen sollst du schwören« (5. Buch Mose 6,13).

Nach der Auslegung von Shimon HaAmsuni müsste das »et« noch etwas anderes lehren. Was kann noch in dieses Gebot einbezogen werden? Wen könnte man noch so sehr fürchten wie den Ewigen, den Schöpfer? Deshalb traf Shimon HaAmsuni eine Entscheidung mit historischen Folgen: Er widerrief alle seine früheren Lehren.

Aus diesem Grund verfügen wir heute nicht über die Ergebnisse seiner ausführlichen Forschung. Er sagte zu seinen Schülern: »So wie ich für die Erklärungen belohnt wurde, werde ich auch für das Zurückziehen belohnt werden« (Pessachim 22b).

Und dann kam Rabbi Akiva und erklärte, dass das »et« dieses Satzes die Weisen der Tora einschließen soll: Auch sie müssen gefürchtet werden, genau wie der Ewige.

Versuchen wir, seine Worte besser zu verstehen.

Es scheint, dass Shimon HaAmsuni Angst hatte, diesen Satz so zu erklären, wie es Rabbi Akiva tat. Es ist schwer anzunehmen, dass ein so großer Experte aller »et« in der ganzen Tora nicht die gleiche genaue Erklärung finden konnte wie Rabbi Akiva. Wie kann es sein, dass er diesen Vers nicht erklären konnte, und Rabbi Akiva konnte es?

Weisen Eine mögliche Antwort auf dieses Rätsel wäre, dass Rabbi Akiva von der Größe Shimon HaAmsunis derart inspiriert war und dessen Geschichte seinen Verstand so stark erleuchtete, dass er eine neue Ebene des Verständnisses hinzufügte, was es bedeutet, einen Weisen der Tora zu fürchten.

Die Bedeutung des Studiums als religiöse Pflicht ist ein neuartiges Konzept der Tora. Diese Idee ist in anderen Religionen kaum zu finden.

Was bedeutet es, dass die Weisen der Tora genauso gefürchtet werden sollen wie der Allmächtige? Unser Vorfahr Jakow hatte einen Traum: »Siehe, eine Leiter steht auf dem Boden und reicht bis zum Himmel« (1. Buch Mose 28,12). Dieser Traum könnte als persönlicher Wunsch Jakows interpretiert werden – der später mit der Hilfe des Ewigen verwirklicht wurde, wie unsere Weisen sagen: »Auf dem Weg, wohin eine Person gehen möchte, führen sie sie« (Makkot 10b).

Jakows Wunsch war es, dass die Leiter, die die persönliche Entwicklung symbolisiert, auf festem Boden stehen und die höchsten Höhen erreichen sollte. Wenn wir darüber nachdenken, können wir verstehen, dass es gar nicht so einfach ist.

System Dieses System, der Traum Jakows, der in Erfüllung ging, kann als Symbol für die Tora selbst verstanden werden: die g’ttliche Weisheit, die von Menschen studiert wird.

»Ja, für Mosche ist es in der Tat trivial.« (Berachot 33b)

Die Tora hat ihre Grundlage auf stabilem Boden, in dem Sinne, dass ihre Gesetze von jedem von uns (mit angemessener rabbinischer Unterstützung) studiert werden können. Diese Gesetze sind sehr realistisch und weltlich, sie öffnen den menschlichen Geist, verfeinern ihn und bereiten ihn so weit vor, dass er göttliche Weisheit, Verständnis und Inspiration wahrnehmen kann. »Die Tora des Ewigen ist heilsam, stellt die Seele (...) wieder her, macht das Einfältige weise und erleuchtet die Augen« (Psalm 19, 7–8).

Deshalb: »Wenn es keine Weisheit gibt, gibt es keine G’ttesfurcht« (Avot 3,17), da diese Art von Furcht, die mit den Mitteln der Tora erreichbar ist, alle anderen Arten der Ehrfurcht in den Schatten stellt.

Im Licht dieser Furcht erscheint alles andere bedeutungslos. Es ist kein Zufall, dass in unserer gesamten Geschichte die größten Toraweisen die herausragendsten Gerechten waren, die Führer und Berater unserer Nation, durch die wir alle die g’ttliche Weisheit erhalten haben. (Übrigens ist dies für mich persönlich einer der größten Beweise für den g’ttlichen Ursprung der Tora: Es funktioniert seit Jahrhunderten und bringt wie kein anderes System der Welt gerechte und weise Menschen hervor.)

Demut Die Spitze von Jakows Leiter reicht bis zum Himmel. Die größten Weisen der Tora sind es wert, in einer ähnlichen Weise gefürchtet zu werden wie der Schöpfer selbst. Auf diese Weise »vergöttern« wir unsere Rabbiner keineswegs: Es sei fern von uns zu sagen, dass ihr Kenntnisstand und ihre Gerechtigkeit denen des Ewigen in nichts nachstehen. Wir geben vielmehr in ehrlichem Ton der Demut zu, dass sowohl der Ewige als auch die Weisen weit über unserem eigenen Verständnisniveau liegen.

Indem wir sie fürchten, respektieren und bewundern wir sie, wollen von ihnen lernen und an ihrer Weisheit teilhaben.

Wie wir an der Idee von Jakows Leiter gesehen haben, können wir dadurch das G’ttliche auch hier in dieser Welt erfahren und dadurch G’ttesfurcht erlangen. Und die Weisheit der Tora erleuchtet unsere Augen: Wir werden in der Lage sein, Dinge in der Welt zu verstehen, die wir früher nicht verstehen konnten. Und das wird unsere G’ttesfurcht weiter stärken.

Die Konsonanten der hebräischen Wörter »Furcht« (Jir’a) und »Sehen« (Re’ija) sind dieselben. Der Mensch fürchtet sich mehr vor dem, was er sieht, als vor dem, was ihm verborgen bleibt. Je besser das Sehvermögen, desto mehr wächst die Furcht.

wunsch In unserem Wochenabschnitt lehrt Mosche das jüdische Volk: »Was wünscht sich dein allmächtiger G’tt von dir – abgesehen davon, dass du Ihn fürchtest?« (5. Buch Mose 10,12).

Der Talmud wirft die naheliegende Frage auf: Ist die Furcht vor dem Himmel tatsächlich eine solche Kleinigkeit, wie Mosche es darstellt? Die Antwort ist auf den ersten Blick seltsam: »Ja, für Mosche ist es in der Tat trivial« (Berachot 33b). Und was ist mit allen anderen im Volk, die er in seiner Rede ansprach? Was nützt es ihnen, dass es für Mosche leicht ist, wenn es für sie nicht leicht ist?

Die Antwort noch einmal: Da wir bereits die Tora und ihre weisen Lehrer besitzen, gerechte Individuen, für die das höchste Maß an Angst auch Teil ihrer praktischen Realität ist, dienen sie uns als »Schnittstelle«, wie eine Jakobsleiter, die ihr Fundament auf dem Boden hat. Sie steht jedem von uns zur Verfügung.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Ekew zählt die Folgen des Gehorsams der Israeliten auf. Wenn sie sich an die Gesetze halten würden, dann blieben die Völker jenseits des Jordan friedlich, und es würde sich materieller Fortschritt einstellen. Die bisherigen Bewohner müssen das Land verlassen, weil sie Götzen gedient haben – nicht, weil das Volk Israel übermäßig rechtschaffen wäre. Am Ende der Parascha verspricht Mosche, im Land Israel würden Milch und Honig fließen, wenn das Volk die Gebote beachtet und an die Kinder weitergibt.
5. Buch Mose 7,12 – 11,25

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