Jugend

Hinaus ins Leben

»Sie waren beide nackt, und sie schämten sich nicht« (1. Buch Mose 2,25). Foto: istock

Jugend

Hinaus ins Leben

Jeder Mensch wird aus dem Garten Eden vertrieben, um erwachsen zu werden

von Rabbiner Boris Ronis  20.09.2018 19:22 Uhr

Zeit unseres Lebens suchen wir Menschen nach Herausforderungen und Bereicherung in unserem Leben. Schon im Kindesalter beginnen wir, unsere Grenzen und Möglichkeiten auszuloten – oft auf schmerzliche, aber mitunter auch lustige Art und Weise. So erfahren wir unsere Welt und lernen ihre Gesetzmäßigkeiten kennen. Es ist ein ewiges Suchen nach Antworten auf Fragen, das uns vieles ermöglicht, aber uns oft auch in die Schranken weist.

Warum tun wir das? Reicht uns nicht die wundervolle Welt aus, die der Ewige in Seiner unermesslichen Weisheit für uns geschaffen hat? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns den Beginn der Menschheit anschauen und den Ursprung unseres Wissensdurstes.

Alles scheint im Garten Eden begonnen zu haben, dort wurde das Fundament unseres Wesens gelegt – unserer ewigen, rastlosen Suche nach Antworten und Möglichkeiten.

Chawa Adam und Chawa leben im Garten Eden zuerst sorglos und ohne Anstrengungen. Sie kennen nicht den Druck, unter dem viele Menschen heute stehen. Frei und sorglos ist ihr Leben, denn Gott, der Ewige, kümmert sich um alles: Er gibt ihnen Nahrung und Wohlbefinden in einem All-inclusive-Paket. Nur eines dürfen die beiden nicht: vom Baum des Wissens essen.

Dieser Baum, der in der Mitte des Gartens Eden steht, fällt den beiden aber erst durch den Hinweis der Schlange auf. Die Schlange eröffnet der unschuldigen Chawa die Möglichkeiten, die der Verzehr der Frucht angeblich nach sich zieht.

»Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet davon nicht sterben. Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf, und ihr werdet wie göttliche Wesen, erkennt Gutes und Böses« (1. Buch Mose 3, 4–5).

So kommt es, dass der Mensch sein Wohnrecht im Garten Eden verliert. Verführt durch die listige Schlange, müssen wir von nun an für uns selbst sorgen. Es ist zu bezweifeln, dass wir diesen Schritt bewusst gegangen sind. Eine Antwort auf die Frage, warum ein so gefährlicher Baum in der Mitte des Gartens steht und wir nicht davor geschützt werden, von ihm zu essen, bekommen wir vorerst nicht.

Auch die Beweggründe der Schlange bleiben uns verborgen. Dass sie einen Gewinn davon hat, ist nicht ersichtlich.

Trieb Eine gegenseitige Abneigung wird uns von da an verbinden: »Auch werde ich Feindschaft setzen zwischen dich und die Frau und zwischen deinen Samen und ihren Samen. Dieser soll dir den Kopf verwunden und du ihm die Ferse verwunden« (3,15).

Die Folgen des Handelns unserer Vorfahren sind bekannt: Die Beziehung zu Gott ändert sich immens. Wir scheinen uns vielem bewusster zu sein und können nicht wieder zurückkehren auf den Stand der ursprünglichen Arg- und Sorglosigkeit. Wir haben im Garten Eden das kindlich Naive verloren und sind zu Geschöpfen geworden, die wählen und entscheiden müssen zwischen dem bösen Trieb, Jezer hara, und dem guten Trieb, Jezer hatow.

Das Essen der Frucht hat aber noch weitere Folgen: Intellektuell versucht der Mensch, Gott nachzueifern, zu werden wie der Ewige – mit dem Ergebnis, dass Gott dem Menschen Grenzen setzt. Der Mensch kann nicht Gott sein, das verbietet der Ewige. Er bestraft uns, wenn wir uns anmaßen, diese Grenze zu überschreiten und uns mit dem Göttlichen gleichzusetzen.

Seit der Mensch den Garten Eden verlassen hat, scheint er diesen Vorgang immer wieder aufs Neue zu durchleben: seine Entwicklung vom Kind bis zum Erwachsenenalter. Wir werden in einen Garten Eden hineingeboren. Dort leben wir behütet und umsorgt von unseren Eltern, bis wir durch unsere Reife und unser Wachstum diesen Garten verlassen müssen. Von da an sorgen wir für uns selbst, durchlaufen alle Stufen von Liebe und Schmerz, genauso wie einst Adam und Chawa.

Vielleicht ist dies der Weg des Ewigen, der uns in Seiner unendlichen Weisheit geformt hat und uns ins Leben hinausschickt, damit wir uns selbst finden und unsere eigenen Wege erkennen, sodass wir lernen, die Schöpfung zu verstehen.
g Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).


Inhalt
Mit der Paraschat Bereschit fängt ein neuer Jahreszyklus an. Die Tora beginnt mit zwei Berichten über die Erschaffung der Welt. Aus dem Staub der aus dem Nichts erschaffenen Welt formt der Ewige den Menschen und setzt ihn in den Garten Eden. Adam und Chawa wird verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der inmitten des Gartens steht. Doch weil sie – verführt von der Schlange – dennoch eine Frucht vom Baum essen, weist sie der Ewige aus dem Garten. Draußen werden ihnen zwei Söhne geboren: die Brüder Kajin und Hewel. Der Ältere, Kajin, tötet seinen Bruder Hewel.
1. Buch Mose 1,1 – 6,8

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

»Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben«, schreibt Rafael Seligmann

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025